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Infernal: Thriller (German Edition)

Infernal: Thriller (German Edition)

Titel: Infernal: Thriller (German Edition)
Autoren: Greg Iles
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    I ch habe aufgehört, Leute zu schießen, kurz nach dem Gewinn des Pulitzer. Das war vor sechs Monaten. Mit Menschen war ich schon immer begabt, aber sie haben mich auch fertig gemacht – und das, lange bevor ich den Preis erhielt. Trotzdem schoss ich weiter, auf einer blinden Suche, der ich mir nicht einmal bewusst war. Es fällt wahrscheinlich schwer, das zu glauben, doch der Pulitzer war für mich nicht der gleiche Meilenstein wie für die meisten anderen Fotografen. Mein Vater hat ihn zweimal gewonnen. Das erste Mal 1966 für eine Serie in McComb, Mississippi. Das zweite Mal 1972 für ein Bild von der kambodschanischen Grenze. Diese Auszeichnung hat er nie in Empfang genommen. Der belichtete Film wurde von amerikanischen Marines auf der falschen Seite des Mekong aus seiner Kamera gezogen. Die war alles, was sie fanden. Zwanzig Aufnahmen auf Tri-X brachten Licht in den Ablauf der Ereignisse. Mein Vater hatte den Motor seiner Nikon F2 auf fünf Bildern in der Sekunde stehen, als er die brutale Exekution einer weiblichen Gefangenen durch einen Soldaten der Roten Khmer schoss und anschließend das Gesicht des Henkers, während dessen Pistole auf den ebenso tapferen wie törichten Mann herumschwang, der die Kamera auf ihn gerichtet hielt. Ich war damals gerade zwölf Jahre alt und zehntausend Meilen weit entfernt, doch die Kugel traf mich mitten ins Herz.
    Jonathan Glass war lange vor diesem Augenblick eine Legende, doch Ruhm ist kein Trost für ein einsames Kind. Ich habe meinen Vater nicht annähernd oft genug gesehen, als ich klein war, und in seine Fußstapfen zu treten war für mich eine Möglichkeit, ihn besser kennen zu lernen. Ich trage noch immer seine mit Kampfspuren übersäte Nikon mit mir herum. Ein Dinosaurier nach heutigen Maßstäben, doch mit ihr habe ich meinen Pulitzer gewonnen. Meinen Vater hätte es wahrscheinlich amüsiert, dass ich aus Sentimentalität seine alte Kamera benutze, doch ich weiß, was er zu meinem Preis gesagt hätte. Nicht schlecht, für eine Frau.
    Und dann hätte er mich umarmt. Gott, wie sehr ich diese Umarmung vermisse. Sie verschlang mich völlig, wie die Umarmung eines großen Bären, und beschützte mich vor der Welt. Seit achtundzwanzig Jahren habe ich diese Arme nicht mehr gespürt, und doch sind sie mir noch genauso vertraut wie der Geruch des Olivenbaums, den er vor meinem Fenster pflanzte, als ich acht wurde. Damals betrachtete ich den Baum nicht als das großartige Geburtstagsgeschenk, doch später, nachdem mein Vater verschwunden war, erschien mir der süße Duft, der nachts durch mein offenes Fenster trieb, wie sein über mich wachender Geist. Es ist lange her, dass ich unter diesem Fenster geschlafen habe.
    Für die meisten Fotografen bedeutet der Gewinn des Pulitzer Triumph und Bestätigung, den entscheidenden Durchbruch, den Punkt, an dem das Telefon zu läuten beginnt und die Traumjobs angeboten werden. Für mich war es der Haltepunkt. Ich hatte bereits zweimal den Capa Award gewonnen, der für Leute, die sich auskennen, der wichtigere von beiden Preisen ist. 1936 schoss Robert Capa das unvergängliche Foto eines spanischen Soldaten in dem Augenblick, als ihn die tödliche Kugel trifft, und Capas Name ist ein Synonym für Tapferkeit im Kugelhagel. Capa nahm sich in Europa, kurz nachdem er und Cartier-Bresson und zwei weitere Freunde Magnum Fotos gegründet hatten, meines damals noch jungen Vaters an. Drei Jahre später, 1954, trat Capa in einer Gegend, die zu dieser Zeit Französisch Indochina hieß, auf eine Landmine und gab damit das tragische Vorbild, dem auf die eine oder andere Weise mein Vater, Sean Flynn (Errols verwegener Sohn) und ungefähr dreißig weitere amerikanische Fotografen während der drei Jahrzehnte der Konflikte folgen sollten, die der Öffentlichkeit als Vietnamkrieg ein Begriff sind. Doch die Öffentlichkeit weiß entweder nichts vom Capa Award, oder sie schert sich nicht darum. Es ist der Pulitzer, den sie kennt, und das öffnet seinen Gewinnern die Türen.
    Nachdem ich ihn hatte, trudelten neue Aufträge ein. Ich lehnte sie allesamt ab. Ich war neununddreißig Jahre alt, unverheiratet (wenngleich nicht ohne Möglichkeiten), und ich hatte, bereits fünf Jahre bevor ich den Pulitzer in mein Regal stellte, jenen mentalen Zustand erreicht, den man gemeinhin als »ausgebrannt« bezeichnet. Der Grund dafür ist simpel. Mein Job bestand im Grunde genommen aus nichts anderem als einer Dokumentation des grausigen Weges, den der Tod über
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