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Bis zum Ende der Welt

Bis zum Ende der Welt

Titel: Bis zum Ende der Welt
Autoren: Norbert Zähringer
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Neugier, ihn weiter danach zu fragen.
    Als sie älter war und ihr Großvater missmutig die Berichte in den Zeitungen las, die davon handelten, dass die arbeitslosen Bewohner von Leninsk, seine jüngeren Kameraden, denen er fünf Jahre zuvor mit einer großen Abschiedsfeier Lebewohl gesagt hatte, nicht mehr bezahlt wurden und dazu übergegangen waren, Kabel und Elektronik aus den verrotteten Abschussrampen und den nicht mehr benötigten Raketen zu reißen, um sie auf irgendeinem Trödelmarkt nahe der kasachisch-usbekischen Grenze zu verscheuern, da erfuhr sie, lediglich aus einem beiläufigen Satz, dass der Mann im Mond Yangel hieß.
    Doch auch das war noch nicht die ganze Geschichte. Die ganze Geschichte erzählte ihr Großvater in seinem letzten Sommer, nachdem ihm, beinahe achtzig jährig, ein Lungenflügel entfernt worden war und der Arzt sich zu der Bemerkung hatte hinreißen lassen, es sei ein Jammer: Wenn er frühzeitig mit dem Rauchen aufgehört oder besser gar nicht erst damit angefangen hätte, wäre er jetzt munter wie ein Sechzigjähriger, so aber – es gebe keinen Grund, die Augen vor dem Unvermeidlichen zu verschließen – seien seine Tage gezählt.
    Da lachte der Oberst und wollte gar nicht mehr damit aufhören.
    «Mein lieber Doktor», begann er schließlich, «Ihre Diagnose mag für die meisten Ihrer Patienten, die in meiner Lage sind, zutreffen, und auch wenn sie ihnen nichts mehr nützt, kann ich verstehen, dass man, wenn man so viele aussichtslose Fälle hat wie Sie, zu einem Zyniker wird, der den Todeskandidaten kurz vor dem Abkratzen noch ein gehörig schlechtes Gewissen macht. Oder haben Sie mit Ihrer Bemerkung eine eher pädagogische Absicht verfolgt? Wollten Sie damit meiner wunderschönen Enkeltochter hier einen Schrecken einjagen, sodass sie nie auch nur auf die Idee kommt, einen Glimmstängel anzurühren? Dann seien Sie bedankt, ich bin ganz Ihrer Meinung, Nikotin ist Gift, machen Sie weiter so, warnen Sie die Jungen!
    Was aber nun mich alten Furz betrifft, der ich in den vergangenen fast acht Jahrzehnten doch mehr als eine gute Gelegenheit zum Abkratzen hatte, ohne mir vorher noch dummes Zeug anhören zu müssen, so lassen Sie sich gesagt sein – ich bin ein Einzelfall. Ich bin der Fehler in Ihrer Statistik. Wenn ich nämlich, wie Sie mir eben sagten, frühzeitig mit dem Rauchen aufgehört oder gar nicht erst damit angefangen hätte, dann wäre ich, und zwar nicht ‹wahrscheinlich› oder ‹möglicherweise›, sondern mit absoluter, mit hundertzehnprozentiger Sicherheit, bereits vor über vierzig Jahren gestorben.»
    Damals, vor über vierzig Jahren, in seinen ersten Tagen auf dem Weltraumbahnhof, träumte Major Konew wieder von Berlin, wandelten wieder die sieben deutschen Gespenster durch seinen Schlaf und machten sich lustig über seine neuerliche Versetzung. Es war ein verrücktes Echo der verrückten Zeit in der verrückten Stadt, das er, nach einem ruhigen, fast ereignislosen Jahr in Moskau, gar nicht mehr erwartet hatte. Andererseits – war nicht allein die Fahrt durch die kasachische Steppe unter dem wolkenlosen Himmel, dieses völlige Fehlen von Hügeln, Wäldern oder größeren Ortschaften, ja die Abwesenheit selbst kleinster topographischer Abwechslungen, wie sie eine Hecke oder eine Obstwiese sein können, war nicht das Verschwinden der Landschaft an sich Grund genug, dass auch die Wirklichkeit auf eine Traumebene entschwand? Das viel zu blaue Blau der Himmelskuppel erinnerte den Major daran, wie er als Kind in einem Schwimmbad auf dem Zehnmeterturm gestanden und, entgegen dem Rat seines Vaters, nach unten geblickt hatte. Sie waren die Ersten im Bad. Kein anderer Schwimmer oder Springer hatte bislang Unruhe ins Wasser gebracht. Auf dem Boden des Beckens gab es keine Markierungen. Es war blau gekachelt, und mit den gut sieben Metern Wasser darüber war das für den kleinen Jungen damals ein bodenloser Abgrund. Er sprang trotzdem, aber das Grauen des Abgrundes wurde er nie wieder los. Bis er nach Kasachstan kam. In der ersten Zeit befiel ihn, jedes Mal wenn er sich mittags auf das Dach der Kommandantur legte, ein Schwindel, sobald er hinauf zum Himmel blickte. Ihm war, als könnte er fallen. Als wäre da oben der Abgrund. Und es sollte ein weiteres Jahr dauern, bis ihm Sonja, seine spätere Frau, zeigte, dass über ihm kein Abgrund war, sondern das Fenster zum anderen Ende der Welt.
    Dass der Ort, an den er versetzt wurde, offiziell gar nicht existierte, tat sein Übriges.
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