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Bis zum Ende der Welt

Bis zum Ende der Welt

Titel: Bis zum Ende der Welt
Autoren: Norbert Zähringer
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vor der Tür stehen und sieht der Trage nach, bis die Tür sich wieder geschlossen hat.
     
    Gouveia fand sie auf einem der Plastikstühle, sie hatte die Augen geschlossen und den Hinterkopf an die Wand gelehnt, aber er war sich nicht sicher, ob sie schlief. Sie war die Einzige, die dort saß, es schien eine ruhige Freitagnacht zu sein. Auf der gegenüberliegenden Seite öffnete sich der Flur zu einem Wartebereich, an einer Wand war ein großer Flachbildfernseher angebracht, er lief ohne Ton. Eines der Reaktorgebäude von Fukushima kam ins Bild, aber Gouveia verstand den Sinn dieser Einblendung nicht. Er drehte sich um und ging vor Anna, die die Augen immer noch geschlossen hatte, in die Hocke und betrachtete sie. Gern hätte er ihre Hände genommen und gehalten. Die Milchglastür der Intensivstation öffnete sich mit einem leisen Knall, gefolgt vom typischen Surren der kleinen Elektromotoren. Sie schreckte auf und blickte zur Tür. Ein Angestellter des Krankenhauses schob einen Gitterwagen voller schmutziger Wäsche vor sich her.
    Sie lehnte sich wieder zurück und sah Gouveia an.
    «Geht es Ihnen gut?», fragte er auf Deutsch. «Sie verstehen mich doch, oder?»
    «Ja.»
    «Wir haben uns schon einmal gesehen. Im Supermarkt. Erinnern Sie sich?»
    «Hocken Sie schon lange hier?»
    «Ein paar Minuten. Sie haben geschlafen. Hat jemand von der Polizei mit Ihnen gesprochen?»
    «Nein. Nur jemand vom Krankenhaus. Ich musste ein Formular ausfüllen. Wollen Sie mir jetzt Fragen stellen?»
    «Nein, nicht jetzt. Später.»
    «Gut. Später.»
    «Wie geht es Ihrem –», er zögerte einen Moment, «Mann?»
    Sie sah zur Tür. «Die sagen mir nichts. Ich darf nicht zu ihm hinein. Ich verstehe sie nicht.»
    Gouveia stand auf. Neben der geschlossenen Tür befanden sich eine Klingel und eine Sprechanlage. «Wie heißt er?»
    Sie nannte ihm den Namen.
    Er klingelte, und eine abweisende Stimme meldete sich.
    «Ja?»
    «Es geht um einen Patienten namens Gerhard Laska.»
    «Wir haben zu tun.»
    «Hier ist Sargento Gouveia von der GNR , Sie schicken jetzt bitte jemanden heraus, verstanden?»
    Fünf Minuten später kam ein breitschultriger Arzt im OP -Hemd durch die Tür, schob sich den Mundschutz unters Kinn und sagte: «Wir haben ihn operiert und das Projektil entfernt.» Er sah kurz zu Anna. «Versteht sie mich?»
    Gouveia schüttelte den Kopf.
    «Das Problem ist nicht die Verletzung der Schulter. Er hat viel Blut verloren. Sein Allgemeinzustand ist nicht der beste. Na ja, kein Wunder bei der Vorerkrankung. Eine Niere hat sich verabschiedet. Wir haben ihn in ein künstliches Koma versetzt.»
    «Wie sind die Chancen?»
    «Wenn Sie mich fragen, wird er die Nacht nicht überstehen.»
    «Soll ich ihr das so sagen?»
    «Ihr Problem.»
    «Kann sie zu ihm?»
    «Fünf Minuten.»
    Laska lag in der Mitte eines Zimmers, das bis unter die Decke gekachelt war und gar nicht wie ein Krankenzimmer aussah. Sein Bett schien eine komplizierte Mechanik zu besitzen, überall Rädchen, Elektromotoren, Hydraulik. Schläuche führten zu dem Bett, in seinen Mund und Rachen, andere Schläuche führten aus seinem Körper heraus, an Ständern hingen Infusionen, deren Schläuche unter der Heizdecke, die über ihn gebreitet war, verschwanden. Monitore zeigten Zahlen und auf- oder absteigende Kurven, und überall war der Klang der Maschinen, das Pumpen und Stampfen, das Ächzen, Blasen und Pfeifen und leise Piepen, das Laska am Leben erhielt.
    Anna sagte die ganze Zeit über kein Wort, starrte nur auf das Bett, und obwohl Gouveia sie hätte allein lassen können, blieb er schweigend neben ihr stehen, so vertraut war ihm der Anblick des Bettes, wie etwas aus der Vergangenheit, das ihn nun endlich eingeholt hatte.
    «Es ist Zeit, sich zu verabschieden», sagte der Arzt fünf Minuten später.
    Anna berührte Laskas unverletzte Schulter, dann gingen sie.
    «Was hat er gesagt?», fragte sie Gouveia, als sie wieder im Flur standen.
    «Wenn er die Nacht übersteht, hat er eine Chance.»
    «Gut.»
    «Soll ich Sie nach Hause bringen?»
    «Nein.»
    Anna ging zum Wartebereich und setzte sich auf einen Stuhl. Das Fernsehen zeigte Bilder aus der verwüsteten Stadt Ofunato.
     
    Ein Stockwerk höher lag Cabral in seinem Bett und hatte die Fernbedienung des Fernsehgerätes in der Hand.
    «Glatter Durchschuss, Riesenglück», sagte er, als Gouveia hereinkam. «Zwei Zentimeter weiter links, und die Kugel hätte die Schlagader in meinem Oberschenkel erwischt. Und noch mal zwei
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