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Die schoenen Hyaenen

Die schoenen Hyaenen

Titel: Die schoenen Hyaenen
Autoren: Olivia Goldsmith
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1.
    New Yorker Winter gehen nicht gerade sanft mit uns Zigeunern vom Broadway um, dachte Mary Jane Moran nicht zum erstenmal an diesem Tag. Eine heftige Windböe erfaßte sie, als sie die schwere Glastür des Arbeitsamtes aufdrückte. Sie ging in den gruftartigen grauen Raum, ohne den Hinweisschildern, die an Drahtketten von der Decke baumelten, Beachtung zu schenken. Wie jede Woche in den vergangenen sechs Monaten reihte sie sich in eine lange Schlange ein, diesmal stand sie hinter einer sehr kleinen Frau. Hoffentlich zwingt die mir keine Unterhaltung auf, dachte Mary Jane.
    Sie seufzte abgrundtief. Das alles war ihr nur allzu vertraut. Wie üblich entlassene Saison- und Fabrikarbeiter, doch sie vermutete, daß viele der wartenden wie sie selbst waren: jung, tatendurstig, wahrscheinlich sogar talentiert. In New York verdienen die wenigsten talentierten Leute ihren Lebensunterhalt mit ihrem künstlerischen Beruf. An anderen Tagen empfand sie Mitleid mit den nicht mehr gefragten Schreiberlingen, den Tänzern, Schauspielern und Sängern. Heute nicht. Sie hatte genügend eigene Sorgen und wühlte in ihrer großen Plastiktasche nach einem Kaugummi und einem Heftchenroman. Die Warterei konnte dauern.
    Eine ganze Weile später drehte sich die kleine Frau nach Mary Jane um. »Mistwetter heute, nicht wahr?«
    Mary Jane blickte über den Rand ihres Romans auf die Frau hinunter. Sie trug einen braunen Kindermantel mit Knebelknöpfen und sah aus wie eine Bettlerin: nicht sonderlich sauber, eher verschüchtert oder sogar verrückt. Sam nannte Mary Jane mitunter einen »Dreckmagneten«, weil sich alle Irren und Dummköpfe an sie heranmachten.
    »Was machen Sie denn, wenn Sie Arbeit haben?« fragte Mary Jane, weil sie nicht unfreundlich sein wollte.
    »Ich bin Schriftstellerin, aber zuletzt habe ich in einem Anwaltsbüro am Computer gearbeitet. Und Sie?«
    »Schauspielerin, zur Zeit ohne Engagement. Vor drei Jahren hatte ich meine große Chance. Hab sagenhafte Kritiken bekommen. Dann nichts mehr.«
    »Wie hieß denn das Stück?« fragte die Frau neugierig.
    » Jack and Jill and Compromise. Das Stück lief über ein Jahr.« Mary Jane überfiel erneut tiefe Hoffnungslosigkeit. »Seither hat sich niemand mehr für mich interessiert.«
    »Der Nächste!« Bei dem Aufruf zuckten sie beide zusammen. »Viel Glück!« rief die kleine Frau noch. Sie selbst hatte wohl kein Glück. Der Angestellte schüttelte den Kopf. Wohin würde dieses winzige Wesen sich nun verkriechen?
    Mary Jane erhielt ihr Arbeitslosengeld mit dem deutlichen Hinweis, daß sie nur noch zwei Wochen Anspruch auf finanzielle Unterstützung habe. Dann verließ sie das Arbeitsamt an der 26. Straße Ecke Sixth Avenue und hüllte sich fester in den Mantel, der ihren kräftigen Körper schützte. Zwei Stunden und vierzig Minuten Schlangestehen für einhundertfünfundsiebzig Dollar. Nachdem sie kurz am Portal des Gebäudes gezögert hatte, machte sie sich auf den langen Weg zur St. Malachy-Kirche auf der West Forty-sixth Street, wo das Ensemble probte. Ihre Moonboots aus billigstem Plastik versanken in dem graubraunen Schneematsch. Längst waren ihre Füße durchnäßt. Es schneite wieder. Toll, dachte Mary Jane, nagelt mich doch gleich ans Kreuz, und bringt es hinter euch! Sie zog den Schal tiefer ins Gesicht, so daß er ihr besseren Schutz gegen die großen flaumigen Schneeflocken gab. Die Hände in den Fäustlingen steckten tief in den Taschen ihres abgetragenen Mantels.
    An Kälte war sie gewöhnt. Von klein auf. Mary Jane war in Scuderstown im Staat New York bei ihrer Großmutter aufgewachsen. Ihre Eltern waren bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen. Mary Jane erinnerte sich nur dunkel an den Streit zwischen ihrem betrunkenen Vater und ihrer Mutter. Der Wagen geriet ins Schleudern, Reifen quietschten, Glas splitterte. Danach nichts mehr. Doch: An die Kälte erinnerte sie sich genau. Der Unfall geschah in einer Nacht im Dezember. Mary Jane erinnerte sich auch daran, daß sie frierend in der Eingangshalle des Krankenhauses gewartet hatte, ein schockiertes, vierjähriges Mädchen, das unbeachtet blieb, weil Ärzte und Schwestern sich um die Eltern bemühten.
    Mary Janes Mutter starb. Der Vater trug schwere Kopfverletzungen davon und wurde in ein Heim eingewiesen. Mary Jane wurde, wenn auch widerwillig, von der Mutter ihres Vaters aufgenommen, der einzigen sonst noch lebenden Verwandten. Kindheit und Jugend verbrachte sie in einem baufälligen Bauernhaus als ungeliebter,
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