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Biografie eines zufälligen Wunders - Roman

Biografie eines zufälligen Wunders - Roman

Titel: Biografie eines zufälligen Wunders - Roman
Autoren: Residenz
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gedacht, dass ihr wahres Ich jetzt zum Vorschein gekommen ist. Rein menschlich war sie, wenn wir ehrlich sind, unter jeder Kritik. Sie soll blutrünstige Hundekämpfe organisiert haben. Mit Hunden aus dem Tierheim.«
    Schließlich kamen zwei Männer ihrer Kollegin doch noch zu Hilfe. Lenas Hände auseinanderzubekommen sei schwerer gewesen, als einem Bullterrier das Maul zu öffnen.
    »Das Mädchen war hundertmal stärker als wir zwei gestandenen Männer zusammengenommen. Wir waren sicher, Bohdana Iwaniwna nicht mehr retten zu können. Wir haben der Angreiferin auf den Kopf geschlagen, aber es ist nichts passiert. Ihr Schädel war wie eine Bleikugel. Eine Sekunde später ist das Mädel von selbst auf dem Boden zusammengesackt.«
    Als der Sicherheitsdienst das Büro stürmte, lag Lena bereits regungslos unter dem Schreibtisch. Später behauptete jemand, sie hätte Schaum vor dem Mund gehabt, doch das stimmt nicht. Da war kein Schaum. Lena lag einfach nur da und beobachtete mit weit aufgerissenen Augen und leerem Blick, wie Bohdana Iwaniwna aus dem Büro getragen wurde. Später trug man auch sie hinaus, brachte sie zuerst zum Polizeirevier und stellte ihr irgendwelche Fragen. Dann vergingen ein paar Tage, Lenas Eltern kamen und weinten, irgendein Mann kam und leuchtete ihr mit einer Taschenlampe in die Augen und sagte: »Das ist ein Fall für uns, die kommt mit.« Dann wurde sie wieder irgendwohin transportiert, fuhr einen dunklen, langen Gang entlang und die Finsternis dieses Gangs blickte in sie hinein, als sage sie: Hallo, ich habe lange auf dich gewartet.
    Bohdana Iwaniwna verbrachte ein paar Tage im Krankenhaus, kam dann wieder auf die Beine und kehrte in ihr Büro zurück. Damals schrieb sie auch den Erklärungsbericht an ihren Vorgesetzten, in dem sie ihre Sicht auf die tragischen Vorfälle darlegte. Es wurde eine nicht öffentliche Sitzung unter Teilnahme des Bürgermeisters und seiner beiden Stellvertreter einberufen, auf der einstimmig beschlossen wurde, dass kein Grund zur Kündigung von Bohdana Iwaniwna bestünde. Bohdana Iwaniwna bekam feuchte Augen und sagte: »Vielen Dank für Ihre Unterstützung! Das alles war so entsetzlich für mich, ich kann es Ihnen gar nicht sagen! Da gibt man alles, hilft den Menschen, und was ist der Lohn für all die Mühe?« Die blauen Flecken an ihrem Hals waren fast schwarz.
    Das Gericht entmündigte Lena und ordnete eine Zwangsbehandlung in einer geschlossenen Anstalt an. Aus Sicherheitsgründen kam sie zunächst in ein Einzelzimmer und wurde später in den Hauptraum verlegt.
    Das Erste, was Lena mir sagte, war: »Wenn Schneider selbst jetzt aus der Schweiz gekommen wäre, seinen einstigen Zögling und Patienten zu sehen, so hätte er nur eine hoffnungslose Handbewegung gemacht und gesagt ›Ein Idiot!‹.«
    Was sie damit meinte, weiß ich nicht. Vielleicht war das irgendein Zitat, aber ich bin noch nicht draufgekommen welches.
    Wir redeten viel. Ich schilderte Lena kurz die Lage. Ich sagte ihr, dass in der Ukraine offiziell eine Million Geisteskranke leben, aber inoffiziell vielleicht sogar ganze acht Millionen. Die häufigsten Erkrankungen sind: Alkoholismus, Schizophrenie und Schwachsinn. Ich persönlich bin schizophren. Ich muss alles, was ich höre und was mir durch den Kopf geht, aufschreiben. Zuerst habe ich auf meine Arme geschrieben, später auch auf andere Körperteile. Ich wurde hergebracht, als ich dazu übergegangen war, auf den inneren Organen schreiben zu wollen. Etwas in sich drinnen aufzuschreiben, wäre hundertmal sicherer gewesen. Lena stimmte mir zu.
    Was sie betraf, so konnte ich ihr keine Diagnose stellen. Lena wirkte eigentlich ganz normal, als sie aufhörte, in der Nacht herumzuheulen.
    Allerdings konnte sie manchmal doch ziemlich seltsam sein.
    Nach einem halben Jahr schrieb sie dem Chefarzt, dass sie auf ihre ukrainische Staatsbürgerschaft verzichten wolle und dass das ihr legitimes Recht sei. Ihre Nationalität als Ukrainerin erkenne sie an, aber Staatsangehörige der Ukraine könne sie nicht mehr bleiben, weil sie die Gesetze dieses Staates als Zumutung empfinde. Der Chefarzt nahm das Schreiben in Lenas Krankenakte auf.
    »Ich bestehe darauf«, sagte Lena zu ihm, »ich verzichte auf die Staatsbürgerschaft.«
    Der Arzt hatte nach einer Weile genug davon und zog einen bekannten Rechtsanwalt zu Rate. Ihm war es im Grunde egal, welche Staatsbürgerschaft seine Patienten hatten. Allerdings stellte sich heraus, dass Lena nicht auf ihre
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