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Biografie eines zufälligen Wunders - Roman

Biografie eines zufälligen Wunders - Roman

Titel: Biografie eines zufälligen Wunders - Roman
Autoren: Residenz
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Staatsbürgerschaft verzichten konnte, während sie ihre Strafe für die Verletzung der ukrainischen Gesetze absaß.
    »Was für eine ausgeklügelte Falle«, sagte Lena und ließ die Sache auf sich beruhen.
    Die nächsten Vorfälle waren noch merkwürdiger.
    So bat Lena zum Beispiel die Leitung der Zokoliwka, ein Loch in der Wand unseres Zimmers zuzumauern, obwohl ich ganz sicher bin, dass da gar kein Loch war. Der Putz war an vielen Stellen abgebröckelt, das stimmt. Unsere Mitbewohnerin Jacha, die behauptete, aus Tschetschenien zu kommen, aber in Wirklichkeit irgendwo aus der Nähe von Kolomea war, hackte zwar gerne mit meinen Bleistiften auf die Wand ein, aber die Spuren davon konnte man nicht wirklich als Löcher bezeichnen. Schließlich hängte Lena ein weißes Leintuch vor das Loch und beruhigte sich wieder. Hin und wieder sah sie das Leintuch an, als könnte oder wollte sie dort jemanden sehen.
    Eines Nachts passierte jedoch etwas Unglaubliches.
    Jacha hatte gewartet, bis alle schliefen. Sie wollte klammheimlich Lenas Äpfel aufessen, die ihre Eltern von draußen geschickt hatten. Jacha aß für ihr Leben gern Äpfel, Birnen, Pflaumen und generell alles, was man essen konnte. Wir wussten das, deshalb versteckten wir unsere Fresspakete unter der Matratze, unter dem Kissen oder banden sie uns sogar um den Bauch. Nur Lena machte das nicht. Sie war nicht geizig, und Jacha nutzte es zu ihrem Vorteil aus.
    Jedenfalls stand Jacha leise auf und bewegte sich in Richtung von Lenas Bett. Darunter hätte gut sichtbar die heiß ersehnte Tasche mit den Äpfeln stehen sollen.
    Später sagte Jacha, sie hätte gleich bemerkt, dass etwas nicht stimmte. Irgendetwas sei im Zimmer anders gewesen, sie kam aber nicht drauf, was sich verändert hatte. Das trübe Mondlicht sickerte durch das kleine, vergitterte Fenster. Jacha blieb mitten im Zimmer stehen und schaute angestrengt auf die bedrohlich wirkenden Schatten, bis sie endlich verstand, was los war. Dann schrie sie:
    »Mädchen, steht auf! Es ist was Schreckliches passiert! Sie ist verschwunden! Einfach weg!«
    Wir schauten verschlafen unter unseren Decken hervor.
    »Jacha, was soll weg sein? Die Äpfel?«
    »Lena! Zusammen mit ihrem Bett! Das Bett ist nicht mehr da! Und Lena ist auch weg!«
    Wir sind alle sechs aufgestanden, um nachzusehen.
    Jacha hatte nicht gelogen.
    Die Stelle, an der sich am Abend noch Lenas Bett befunden hatte, war leer. Lediglich die Tasche mit den Äpfeln war noch da und wartete geduldig auf die Apfeldiebin. Die Frauen, die ihren Realitätssinn zwar alle längst verloren hatten, fingen trotzdem an, sich zu bekreuzigen.
    Ich blickte nach oben und da sah ich es.
    Lenas Bett hing in der Luft unter der Decke, wie von unsichtbaren Händen gehalten. Lena schlummerte selig darin. Die Frauen standen mit offenen Mündern, während das Bett langsam an seinen vorherigen Platz zurücksank. Lena fragte uns verschlafen:
    »Was ist los, Mädels?«
    Ich habe mich, ehrlich gesagt, auch bekreuzigt.
    Lena schaute sich um. Wir stellten uns um ihr Bett und tasteten es ab, als wollten wir uns vergewissern, dass es echt war und kein Auswuchs unserer im wahrsten Sinne des Wortes kranken Fantasie.
    Das Bett sah aus wie immer.
    Lena sah aus wie immer.
    Nur ihr Gesicht strahlte plötzlich eine unerklärliche Freude aus.
    »Lena, was war das?«, fragte ich sie.
    Lena lächelte mich an, als erlebe sie gerade die lang ersehnte Erleuchtung oder als wäre ihr etwas gegeben worden, was sie in ihren kühnsten Träumen nicht zu wünschen gewagt hätte. Ich fragte sie ganz vorsichtig:
    »Kannst du fliegen?«
    Lena schwieg. Sie wollte mir nichts verraten. Vermutlich dachte Lena, ich würde die Antwort nicht verstehen.
    Als es wieder warm wurde, durften wir ein paar Stunden lang draußen im Park spazieren gehen. Das Grundstück war von einem hohen, unüberwindlichen Zaun umgeben. Wir wanderten, jeder für sich, zwischen den alten Bäumen umher. Hinter der Mauer spazierten unsere Leidensgenossen, die Drogensüchtigen und Alkoholiker, in einem ähnlichen Park zwischen den Bäumen herum. Die Zokoliwka liegt gleich hinter der Drogenfürsorgestelle. Der ehemalige Literaturprofessor Teofil Karnickel fütterte dort früher die schlauen Eichhörnchen mit Nüssen.
    Als wir das erste Mal ins Freie durften, wollte Jacha die Krankenschwestern davon abhalten, Lena aus dem Zimmer zu lassen. Sie schrie:
    »Lasst sie nicht raus! Sie wird fliehen!«
    Die Schwestern hörten nicht auf Jacha. Sie hatten
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