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Biografie eines zufälligen Wunders - Roman

Biografie eines zufälligen Wunders - Roman

Titel: Biografie eines zufälligen Wunders - Roman
Autoren: Residenz
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die Massenpanik sich beruhigt hatte, begannen die Dorfbewohner sich zu fragen, was sie nun mit dem Bison machen sollten. Einer sagte: »Der ist doch wie eine Kuh! Und was macht man mit einer Kuh, die krank ist?!«
    Die Männer holten ihre Äxte und gaben dem Bison den Rest. Das Fleisch verteilten sie untereinander, aber offensichtlich nicht ganz fair, denn einer, der kein Bisonfleisch abbekommen hatte, wandte sich an die Gebietsverwaltung für Umweltschutz. So drang diese Geschichte an die Öffentlichkeit. Die Polizei kam, befragte die Einwohner, wollte stellvertretend jemanden festnehmen, doch sie musste unverrichteter Dinge wieder abziehen, weil sie sonst das ganze Dorf hätte einsperren müssen. Ein junger, gewissenhafter Polizist erzählte einem Journalisten, er habe nicht mit den Dorfbewohnern sprechen können, weil ihre Augen so rot vor Freude gewesen seien, als hätten sie gerade Menschenfleisch gekostet.
    Eine andere Geschichte betraf eine kleine Fleischverarbeitungsfabrik, die heimlich Delikatessenkonserven mit Bisonfleisch herstellte. Die Konserven hießen »Biloweska Puschtscha« und ihr Inhalt war noch bis vor Kurzem auf den Festtafeln von hochrangigen Kiewer Beamten zu finden.
    Im Artikel »Der letzte Bisonhirte« ging es um eine Bisonherde – die letzte in der Region – und um ihr tragisches Ende. Es waren insgesamt sechs Tiere.
    Der Förster Marussetschko erzählte dem Journalisten:
    »Ich habe sie gleich bemerkt, die Spuren im Wald gesehen, und dachte, was für ein Elend, schlecht schaut’s aus, wenn die sich schon hierher verirrt haben, sind sie nicht mehr zu retten. Also habe ich sie jeden Tag gehütet. Morgens bin ich in den Wald und denk mir: ›Na, wo sind denn meine Kühe?‹ Da sehe ich sie plötzlich auf der Lichtung grasen. So wunderschöne, stolze Tiere. Wenn man näher kommt, spürt man diese Kraft, das ist eine Wucht! Die Klitschko-Brüder könnten einen Bison zusammen nicht hochheben. Das ist ein Mordsding! Ich habe das Ganze für mich behalten, habe keinem ein Wort gesagt, damit die Schützen in Uniform nichts mitbekommen. Im Winter war dann ein Kalb da. Ich dachte, na, das werden sie jetzt sicher abknallen. Das Fleisch von einem erwachsenen Bison ist zäh, aber das Kalbfleisch ist zart. Die werden sicher herkommen und Silvester feiern. Als hätte ich’s geahnt … Es kommt mir vor, als wär’s gestern gewesen … Das Alte Silvester, 14. Januar, früh am Morgen, verschneite Idylle. Ich denk mir wieder, na, wo sind denn meine Kühe? Gehe in den Wald hinein, da sehe ich, die stehen auf der Lichtung im Kreis, das Kalb in der Mitte. So schützen die ihre Jungen. Da kommt von der anderen Seite auf einmal ein Riesengeländewagen daher. Die Bisons sind unruhig geworden und geflüchtet. Vermutlich hat sie das Leben diese Reaktion gelehrt, weil sonst sind sie nicht ängstlich, sondern bleiben stehen. Die Bisons laufen am Waldrand entlang, ich laufe im Wald zwischen den Bäumen, und der Geländewagen schiebt wie ein Panzer über das Feld. Dem ist das wurscht. Am Fluss haben die armen Viecher angehalten und nicht gewusst, was sie jetzt machen sollen. Durch den warmen Winter war das Eis in diesem Jahr nicht sehr dick, aber es gab keine andere Chance. Die Bisons sind aufs Eis raus, in der Hoffnung, dass sie es rüberschaffen, aber das Eis hat unter dem Gewicht nachgegeben und alle sind sie, wie sie waren, ins Wasser eingebrochen. Dann habe ich einen Brief nach Kiew geschrieben, wo es hieß, es waren einmal Bisons da, jetzt sind sie weg. Das Autokennzeichen hab ich aufgeschrieben, alles hab ich aufgeschrieben. Keine Antwort.
    Seine Erzählung beendete der scharfzüngige Förster mit den Worten:
    »Schöne Grüße aus dem leeren Wald, ihr Schweine!«
    Doch in dieser Nacht, noch lange vor dem Erscheinen des Artikels, lächelte der Förster Marussetschko Lena verschmitzt an und verkündete, dass es kein Leid ohne Freud’ gibt.
    »Sechs Stück sind ertrunken«, sagte er, »das habe ich mit meinen eigenen Augen gesehen. Aber das Kalb ist am Ufer stehen geblieben. Und siehe da, aus dem Wagen torkelt ein Fettsack, sturzbesoffen, kann sich kaum auf den Beinen halten. Er legt das Gewehr an. Ich konnte das nicht mitanschauen, nein, das war mir zu viel. Ich hab nichts machen können. Also bin ich nach Hause. Die Tränen sind mir runtergeronnen, das sag ich dir, Lena. Zu Hause hab ich mich vor meine Tür gesetzt. Es war frostig, aber sonnig. Ein richtig schöner Tag, eine Pracht, der Schnee glitzert in der
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