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Die Frau in Rot: Roman (German Edition)

Die Frau in Rot: Roman (German Edition)

Titel: Die Frau in Rot: Roman (German Edition)
Autoren: Margot S. Baumann
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Prolog
    Bern, Mai 1743
    E r sprach leise und eindringlich auf die Krähe ein. Der Vogel lauschte mit geneigtem Kopf, ließ ein Krächzen folgen und plusterte seine Federn auf. Dann stieß er sich vom ausgestreckten Arm des Mannes ab und flog gegen das hell erleuchtete Fenster. Mit einem dumpfen Laut krachte das Tier gegen die Scheibe, drehte sich zweimal um die eigene Achse und fiel leblos auf die Eingangsstufen hinab. Nahezu zeitgleich öffnete sich ein Fensterflügel, und eine Silhouette wurde sichtbar. Sie beugte sich über das Sims, verharrte einen Moment und verschwand wieder.
    Auf der gegenüberliegenden Straßenseite duckte sich der hagere Mann tiefer in den Schatten der Arkaden. Seine Augen verengten sich zu schmalen Schlitzen. Vor dem Eingangsportal standen zwei Kutschen. Beide mit Koffern und Kisten beladen. Morgen, in aller Frühe, würden vermutlich die Pferde eingespannt werden, und die Familie führe auf ihren Landsitz. Er wäre fast zu spät gekommen.
    Er kannte die Frau nicht, nur die Miniatur, die ihm sein Bruder von ihr gezeigt hatte: Alabasterhaut, feuerrote Locken, üppige Brüste und eine Taille, die er leicht mit seinen Händen hätte umspannen können. Dirne! Hexe! Sie würde Johannes’ Kinder gebären, die später das Schloss erben würden. Und er selbst ginge leer aus. Das musste er verhindern, wie er es schon einmal verhindert hatte. Bei der ersten Frau. Nicht umsonst hatte er einen Pakt mit Luzifer geschlossen. Doch die Verwandlungen kosteten Kraft. Es war an der Zeit, dass er endlich seinen Lohn dafür bekam.
    Die Eingangstür wurde aufgestoßen. Ein gelber Lichtschein fiel nach draußen auf die Treppenstufen und den Tierkadaver. Die Dirne trug ein helles Nachthemd, darüber einen Schlafrock. Die roten Locken fielen ihr in wilden Kaskaden über den Rücken. In der Hand hielt sie einen Kerzenleuchter. Sie eilte die Stufen hinab, ging in die Knie und stupste die Krähe an. Jetzt!
    »De profundis ad te clamavi. Sic volo, sic ferro ignique, ad honorem diaboli iubeo.« Aus der Tiefe habe ich zu dir gerufen. So will ich, so befehle ich, mit Feuer und Eisen, zu Ehren des Teufels.
    Er wuchs, bis seine Schultern fast die Arkadendecke erreichten, trat dann einen Schritt nach vorne, verharrte aber weiterhin im Schatten.
    Noch nicht, warte!, befahl er sich. Von seinen Lippen tropfte Speichel. Sie würde zart sein, saftig. Ein heiseres Knurren kam aus seiner Kehle. Seine Augen glühten.
    Als ob sie ihn gehört hätte, hob die Frau unvermittelt den Kopf, schaute nach links und rechts, stand schließlich auf und starrte zu ihm herüber. Er sah, wie ein Schauer ihren Körper schüttelte.
    »Komm, Hexe, komm und speise meine Seele!«, zischte er.
    Ihre Schultern strafften sich, der Leuchter entglitt ihrer Hand, und die Kerzen erloschen. Sie kam mit leerem Blick auf ihn zu. Nass glänzte das Kopfsteinpflaster, spiegelte das Mondlicht. Ein Brausen erfüllte die Luft. Kälte stieg auf und bildete Nebelschwaden, die ihre schlanke Gestalt umhüllten. Näher, noch näher. Er konnte sie schon riechen.
    »Aus dem Weg!«
    Der Kutscher schrie aus Leibeskräften, riss an den Zügeln und zog die Bremse an. Die Pferde stemmten ihre Hufe in den Boden, kamen auf den Pflastersteinen ins Schlittern und stiegen. Die Droschke neigte sich gefährlich zur Seite und hielt nur wenige Zoll vor dem Mädchen.
    »Verdammtes Balg!«, schimpfte der Fuhrmann. »Man sollte dich für deinen Leichtsinn verprügeln!«
    Die Frau starrte die Kutsche einen Moment entsetzt an, wandte daraufhin langsam den Blick zum Bogengang und öffnete den Mund zu einem durchdringenden Schrei. Dann drehte sie sich um und rannte zurück ins Haus. Die Tür fiel krachend hinter ihr ins Schloss.
    Er hatte versagt.

1
    Zürich, Juni 2010
    S chatz, das Taxi ist da.« Damaris Morlot stand am Fenster und spähte durch die Gardinen auf die Straße hinab. Sie wandte sich um und horchte. Die Rockmusik, die seit den frühen Morgenstunden in Anouks Zimmer gehämmert hatte, war verstummt. »Anouk«, rief sie nochmals, »beeil dich bitte!«
    Im oberen Stockwerk schlug eine Tür zu, und gleich darauf hörte Damaris Schritte auf der Treppe.
    »Ist ja gut, bin schon da«, murmelte ihre Tochter und schlüpfte in ihre abgewetzte Jeansjacke.
    Damaris versuchte, sich nicht anmerken zu lassen, wie sehr der Anblick ihrer Jüngsten sie erschreckte, die in den letzten Wochen noch dünner geworden war. Die blasse Haut spannte sich wie Pergament über ihren hochstehenden
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