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Biografie eines zufälligen Wunders - Roman

Biografie eines zufälligen Wunders - Roman

Titel: Biografie eines zufälligen Wunders - Roman
Autoren: Residenz
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Polen mochte Lena auch nicht leiden, aber das ist eine andere Geschichte.
    Im Kindergarten erlitt Lena ein seelisches Trauma im Zusammenhang mit der russischen Sprache.
    Kindergartentanten hatte sie viele, allesamt Frauen mittleren Alters mit kurzen Ringellöckchen und einer unbändigen Liebe zum Vaterland. Eine Tante stellte allerdings das genaue Gegenteil der Superpatriotinnen dar. Sie war älter. Ihre langen grauen Haare hatte sie immer zu einem riesigen Dutt gebunden. Der Dutt war größer als ihr ganzer Kopf. Und diese Tante war nicht voller Liebe zum Vaterland.
    Das Vaterland war zwar nie Gesprächsthema zwischen Lena und der Tante, aber es war offensichtlich, dass die Erzieherin es nicht liebte. Sie verlor nie auch nur ein Wort darüber. Mit den Kindern sprach sie Russisch, was angesichts des übersteigerten Patriotismus in Lenas Kindergarten sehr ungewöhnlich war. Anstelle des Bildes von Lenin wurde im Festsaal nun eines von Taras Schewtschenko aufgehängt. Er war darauf ebenfalls in voller Körpergröße zu sehen und seinem Vorgänger nicht ganz unähnlich. Alle blickten das Bild voller Angst und Respekt an, als wäre es eine Ikone.
    Außer dieser einen Erzieherin. Vielleicht wusste sie nicht, wer Taras Schewtschenko war, oder vielleicht hielt sie ihn für unwürdig, die Nachfolge seines Vorgängers anzutreten.
    Die Erzieherin hatte ihr ganzes Leben in San Francisco verbracht, war aber nicht in der Lage, wie ein normaler Mensch zu sprechen. Entweder wollte sie nicht oder konnte sie nicht. Ihr Russisch war grotesk, mit starkem ukrainischen Akzent und vielen ukrainischen Wörtern durchsetzt, die sie jedoch falsch verwendete. Vermutlich führte die Erzieherin kein leichtes Leben, denn wer so spricht, kann unter Fremden nicht glücklich werden.
    Lena nannte sie »Frau Dutt«.
    Frau Dutt mochte Kinder, und ganz besonders mochte sie Lena. Sie brachte ihr das Singen bei und behauptete, Lena würde irgendwann bestimmt »ganz groß rauskommen«. Es war allerdings nicht klar, wo genau sie rauskommen würde, also zum Beispiel aus welcher Körperöffnung, aber damals war Lena wahnsinnig stolz auf sich und sang dermaßen laut, dass die Fensterscheiben nur so klirrten.
    Frau Dutt sagte außerdem voraus, Lena würde eine hübsche junge Frau werden, einen gut aussehenden Mann heiraten und schöne Kinder bekommen. Das war offensichtlich gelogen. Lena war nämlich pummelig und hatte fransige, mit stumpfer Schere schief geschnittene Haare. Die Kindergartentante riet, sie solle sich um ihren Körper und ihre Haare keine Sorgen machen, denn als Kinder seien alle Menschen hässlich. Das war auch gelogen, denn wenn Lena sich so umsah, waren da ganz andere Mädchen. Sie hatten lange blonde Zöpfe, Rüschenkleidchen und Gesichter, die aussahen wie gemalt.
    Dafür konnte Lena am lautesten von allen singen. Und Frau Dutt wiederholte auf Russisch, dass aus ihr mal etwas ganz Großes rauskommen würde.
    Eines Tages bestellte die Kindergartendirektorin die Erzieherin in ihr Büro und befahl ihr, von nun an nur mehr Ukrainisch mit den Kindern zu sprechen. Die Erzieherin versprach es. Einen Monat lang oder vielleicht sogar zwei gab sie sich allergrößte Mühe, doch ihre Versuche wirkten einfach nur lächerlich. Sie brachte keinen geraden Satz heraus und verhaspelte sich ständig. Statt »Hallo Kinder« sagte sie »Hallo Kender«. Die »Kender« krümmten sich vor Lachen, und Frau Dutt weinte. Einmal ging Lena während der Mittagsruhe zu ihr, um sie zu trösten und sich für das »Großrauskommen« zu bedanken.
    »Sie wissen ja«, sagte Lena, »Russland ist ein sehr böses und gemeines Land. Wegen Russland mussten viele Ukrainer sterben. In Sibirien und auch am Weißen Meer.«
    Das Gesicht der Kindergärtnerin wurde rot und verquollen, Tränen rannen. Sie schwieg, und ihr Schweigen ließ Lena keine Ruhe.
    Lena fuhr fort:
    »Kommen Sie eigentlich aus Russland? Denn wenn Sie Russin sind, könnten Sie mein Feind sein.«
    »Ich bin Russin«, antwortete Frau Dutt in einer Sprache, die nicht so leicht einzuordnen war.
    »Dann sind Sie eben eine liebe Russin. Das gibt’s auch.« Irgendwie wurde Lena alles doch zu viel und sie begab sich zu einer Audienz bei der Frau Direktor.
    Die Direktorin war eine sehr strenge Frau. Unter ihrem Blick brach den Kindern der Angstschweiß aus, doch Lena beschloss, ihr zum Wohle aller die Stirn zu bieten.
    Sie klopfte vorsichtig an die Tür. Als keine Antwort folgte, schob sie ihren Kopf durch den Spalt. Die
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