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Biografie eines zufälligen Wunders - Roman

Biografie eines zufälligen Wunders - Roman

Titel: Biografie eines zufälligen Wunders - Roman
Autoren: Residenz
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Regenbögen seien Brücken zwischen zwei Flüssen, aber vermutlich war das geflunkert, er schwindelte gern.
    »Ein Regenbogen, das sind Farben, die sich manchmal versammeln, um gemeinsam die Welt zu verschönern«, sagte Frau Dutt. »Zähl einmal die Farben auf, die du kennst.«
    »Weiß, Schwarz, Rot, Grün, Gelb …«
    »Weiß und Schwarz sind keine Farben.«
    »Wieso keine Farben? Ihre Bluse ist ja weiß.«
    »Das sieht nur so aus. In Wirklichkeit sind alle Farben im Weiß enthalten – alle Farben zusammen. Das nennt man ein Wunder.«
    »Na ja, ich sehe aber keine anderen Farben, ich sehe nur Weiß.«
    »Deswegen ist es ja ein Wunder, eben weil man sie nicht sehen kann. Wunder muss man anders erkennen. Diese Fähigkeit muss man trainieren.«
    »Bringen Sie’s mir bei?«
    »Gerne«, sagte Frau Dutt mit Wehmut in der Stimme. Sie formte gerade den Schwanenkopf.
    Draußen zog inzwischen ein richtiges Maigewitter auf. Es wurde so dunkel wie in der Nacht. Irgendwo in der Nähe heulten Hunde.
    »Bei einem solchen Sturm kommt der Schwarze Reiter auf seinem Rappen in die Stadt geritten«, sagte Frau Dutt.
    »Ich habe ihn noch nie gesehen«, antwortete Lena.
    »Na ja, niemand hat ihn je gesehen, weil bei einem Gewitter alle zu Hause sitzen. Dann reitet er auf seinem schwarzen Pferd durch die Stadt.«
    »Und was will er?«
    »Das weiß niemand. Vielleicht macht er einfach nur einen Ausritt, aber vielleicht sucht er auch nach etwas.«
    Frau Dutt erzählte den Kindern oft irgendwelche Ammenmärchen und Gruselgeschichten. Sie handelten von übernatürlichen Phänomenen, Vulkanausbrüchen, Außerirdischen und Gespenstern in verlassenen Burgen. Die Kinder hörten ihr mit offenem Mund zu. Später erzählten sie die Geschichten zu Hause weiter, woraufhin ihre wütenden Eltern zur Direktorin liefen, um sich über die Erzieherin zu beschweren.
    Draußen donnerte und blitzte es. Die Kinder kamen verängstigt in ihren Unterhosen angelaufen.
    »Geht wieder ins Bett«, sagte Frau Dutt, »ich komme gleich nach, ich muss nur noch das Fenster zumachen.«
    Die Kindergärtnerin stand von ihrem Tisch auf und ging zum Fenster.
    Da blitzte in der Luft etwas auf.
    Eine Feuerkugel von der Größe eines Fußballs kam mitten im Zimmer über den Kinderköpfen zum Stehen und spuckte kurze weiße Funken in alle Richtungen. Die Kugel zuckte, verharrte aber gespenstisch auf der Stelle, als warte sie auf etwas Bestimmtes. Die Kinder standen wie angewurzelt da und starrten gebannt auf die Kugel. Im gleißenden Licht fingen ihre Augen an zu tränen.
    Lena wusste, was die Kugel bedeutete. Sie hatte Frau Dutt tausende Male über Kugelblitze sprechen gehört. Sie waren ein beliebtes Thema in allen Science-Fiction-Zeitschriften. Alle redeten andauernd über Kugelblitze, ohne jemals einen gesehen zu haben. Alle wussten, dass man Ruhe bewahren und nicht weglaufen sollte. Auf keinen Fall durfte man sich bewegen. Allerdings wusste keiner, wie lange nicht, denn es gab keine Augenzeugen dieser fantastischen Naturerscheinung, zumindest keine überlebenden.
    Frau Dutt wusste ebenfalls, womit sie es zu tun hatte. Lena bemerkte Angst in ihren Augen und war etwas überrascht, da sie eigentlich sicher war, Frau Dutt würde immer eine Lösung finden.
    Das Ganze dauerte nur wenige Sekunden.
    Die schreckensstarren Kinder standen in ihren Unterhosen da und waren bereit, Reißaus zu nehmen. Doch Frau Dutt kam ihnen zuvor. Sie stürzte zum Fenster und rief aus Leibeskräften:
    »Ist das etwa kein Wunder, Lena?!«
    Im gleichen Augenblick sprang der Feuerball ruckartig zur Seite und Frau Dutt loderte in allen Farben des Regenbogens auf. Die Kinder schrien wie am Spieß. Lena stand regungslos da und schaute.
    Frau Dutt löste sich in den bunten Farben auf, als hätte es sie nie gegeben. Nur der abscheuliche Geruch von verbranntem Fleisch erinnerte noch an die frühere Existenz der Kindergärtnerin.
    Lena blieb reglos stehen und beobachtete, wie sich der ganze Kindergarten auf das nun einsetzende Geschrei hin versammelte. Die Direktorin fragte die Kinder, was passiert sei, aber es war aussichtslos, keiner brachte auch nur ein Wort heraus, alle weinten, ein paar lagen bewusstlos auf dem Boden. Die Direktorin wandte sich an Lena:
    »Was ist passiert? Wo ist die Tante?«
    Der hellblaue Plastilinschwan stand stolz auf dem Tisch, an dem Platz, wo noch kurz zuvor Frau Dutt gesessen war. Lena würde diesen Schwan behalten.
    »Olenka! Olenka!«, schrie die Direktorin.
    Lena sagte:
    »Ich
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