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Biografie eines zufälligen Wunders - Roman

Biografie eines zufälligen Wunders - Roman

Titel: Biografie eines zufälligen Wunders - Roman
Autoren: Residenz
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Direktorin saß an ihrem Schreibtisch. Sie trug ihren weißen Kittel, den sie nie ablegte, obwohl sie in einem Kindergarten und nicht im Krankenhaus arbeitete.
    »Was ist?!«, rief sie gereizt.
    Lena schlüpfte zwischen Tür und Türrahmen hindurch wie ein Wiesel, von dem sie gehört hatte, dass es durch die engsten Spalten kommt, indem es sich in die Länge zieht und ganz flach macht. Also schlüpfte Lena wie ein Wiesel durch den Türspalt und setzte mit zittriger Stimme an:
    »Ich wollte Sie fragen, Herr Direktor … Frau Direktor Wolodymyriwna, ich wollte Sie bitten, dass Sie ihr erlauben, mit uns Russisch zu sprechen. Oder wenigstens mit mir. Weil ich verstehe alles. Es macht mir auch gar nichts aus.«
    Die Direktorin blickte Lena streng an, während Lena weiter vor sich hin haspelte und das Stammeln langsam in ein Weinen überging. Das Gesicht der Direktorin war eisern, bleich, mit einem Stich ins Graue. Bei Bedarf setzte sie ein ebenso eisernes Lächeln auf, das genügte, damit die Kinder zu stottern anfingen oder zu Bettnässern wurden. Doch heute lächelte die Direktorin nicht.
    »Hör mir einmal zu«, zischte sie unter Einsatz ihres charakteristischen pädagogischen Untertons, »wie heißt du überhaupt?«
    »Lena …«
    »Das heißt nicht Lena, sondern Olenka! Hör mir mal zu, Olenka. Du bist Ukrainerin, vergiss das nie. Deine Großväter und Urgroßväter haben ihr Leben dafür gegeben, dass du heute Ukrainerin sein darfst.«
    »Mein Opa lebt noch«, schob Lena schnell ein, »er trinkt nur viel. Mein Urgroßvater ist aber tot, das stimmt. Er war schon alt.«
    »Pass auf, hörst du überhaupt, was ich dir sage?! Ich meine nicht deine Großväter und Urgroßväter, sondern die von anderen Menschen. Die vielen anderen Großväter und Urgroßväter …«
    »Ach so, das hätten Sie mir gleich sagen müssen!«
    »… die ihr Leben für die Ukraine gegeben haben. Sie mussten sterben, damit du heute leben kannst. In einer freien Ukraine. Und du hast kein Recht, dieses Land zu verraten. Du wirst hier leben und zum Wohle dieses Landes arbeiten. Und du wirst Ukrainisch sprechen. Unsere Sprache ist nur dank deiner Großväter und Urgroßväter erhalten geblieben.«
    Lena zuckte zusammen.
    »… ich meine, dank der vielen anderen Großväter und Urgroßväter, die ihr Leben riskiert haben, nur damit Ukrainisch weiterhin frei erklingen kann.«
    Lena hörte noch ein wenig zu, um einen höflichen Eindruck zu machen und nicht unnötig zu provozieren, um dann wieder zum Wichtigsten zurückzukommen:
    »Erlauben Sie ihr also, Russisch mit uns zu sprechen?«
    »Du hast es nicht verdient, dich Ukrainerin zu nennen!«, keifte die Direktorin zornig. »Wie kannst du es nur wagen, deine Sprache so zu verraten, wo deine Großväter und Urgroßväter unter der Erde liegen!«
    »Mein Opa lebt noch …«
    »Raus, du Abtrünnige!«
    Lena stürmte aus dem Büro. Unterwegs versuchte sie einzuordnen, in welche Kategorie von Schimpfwörtern das Wort »Abtrünnige« fallen könnte. Frau Dutt bekam nach diesem Gespräch noch größere Probleme. Die Direktorin berief eine Sonderkommission ein – eine Art öffentliches Verfahren, welches endgültig über ihr weiteres Schicksal entscheiden sollte.
    Das Schicksal entschied jedoch, wie so oft, selbst.
    Jener Tag prägte sich Lena besonders gut ein.
    Es war Mai, alles blühte und duftete. Lena hatte gerade ein neues Kleid bekommen, was damals nicht sehr oft vorkam, weil ihren Eltern schon lange kein Gehalt mehr ausbezahlt wurde. Das dunkelrote Kleid mit den winzigen Ahornblättern war ihr ungefähr um zwei Größen zu klein.
    Als die anderen Kinder nach dem Mittagessen eingeschlafen waren, ging Lena zu Frau Dutt und teilte ihr mit, dass sie nicht schlafen würde, weil sie ihr neues Kleid nicht ausziehen wollte. In Wahrheit konnte Lena einfach nicht herausschlüpfen, da sie Angst hatte, sie könnte das Kleid zerreißen oder beim Ausziehen ersticken. Frau Dutt wusste sofort Bescheid und ließ das Mädchen bei sich im Spielzimmer sitzen.
    Frau Dutt bastelte gerade einen hellblauen Schwan aus Plastilin – sie liebte Hellblau. Sie wandte sich an Lena:
    »Mach die Augen zu und stell dir einen Regenbogen vor.«
    Lena folgte Frau Dutts Anweisungen, doch der Regenbogen wollte nicht erscheinen.
    »Weißt du, was ein Regenbogen ist?«
    »Sicher«, log Lena.
    Natürlich hatte sie schon Regenbögen gesehen, aber sie hatte keine Ahnung, woher sie kamen und wohin sie verschwanden. Lenas Opa erklärte,
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