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Biografie eines zufälligen Wunders - Roman

Biografie eines zufälligen Wunders - Roman

Titel: Biografie eines zufälligen Wunders - Roman
Autoren: Residenz
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und sahen dem Dschungel beim Wachsen zu. Manchmal kam die Schuldirektorin ins Gewächshaus. Sie war eine hässliche dicke Furie mit dick verspachtelten Froschlippen. (Aus irgendeinem Grund hatte Lena nie das Glück, auch nur einen einzigen normalen Menschen in einer Führungsposition kennenzulernen.) Die Direktorin kam ins Gewächshaus, um zu streiten. Lena saß auf dem Hocker und stellte sich vor, wie der meterhohe Gummibaum, der das alles mitanhören musste, die Direktorin mit seinem dicksten Ast in den Betonboden rammte, damit sie endlich Ruhe gab und Baba Lida nicht belästigte.
    Die Direktorin brüllte:
    »Lida! Was ist das hier für ein Urwald?! Wo soll ich denn die ganzen Pflanzen unterbringen?! Ich brauche keine Gummibäume und keine Philodendren! Die gehen ja in kein Zimmer rein! Und die Kakteen?! Wozu stehen die da rum? Die Kinder werden sich die Augen daran ausstechen! Willst du, dass ich ins Gefängnis muss?!«
    »Ich habe auch andere Pflanzen«, antwortete Baba Lida leise. »Die Hortensien sind so schön, die Sumpf-Calla blüht auch schon …«
    Die Direktorin war jedoch weder an den Hortensien noch an der Sumpf-Calla interessiert. Sie hasste Baba Lida einfach, und Lena musste erkennen, dass es Menschen gibt, die keinen besonderen Grund brauchen, um jemanden zu hassen.
    Im Winter hielt Baba Lida Hühner mit ihren Küken. Sie versteckte sie in Kisten unter den Regalen und stellte große Topfpflanzen davor. In Baba Lidas winzigem Holzhaus, das in der Nähe des Schulgebäudes stand, war es eiskalt, während es hier im Gewächshaus immer warm und gemütlich war. Den Hühnern schien es zu gefallen, im Dschungel zu überwintern. Sie schenkten den Pflanzen ihre Exkremente und die Pflanzen dankten es mit ihrer Wärme.
    Die Direktorin wusste nichts vom Hühnerstall im Gewächshaus und durfte davon auch nichts mitbekommen. Vor den planmäßigen Kontrollbesuchen der Furie deckte Baba Lida die Kisten mit Brettern ab, und die Hühner saßen still, ohne einen Pieps von sich zu geben.
    Eines Tages schneite die Direktorin überraschend herein, sodass Baba Lida keine Zeit hatte, die Spuren zu verwischen. Die Direktorin begann sich wie üblich zu ereifern, diesmal wegen der neuen Sukkulentenfamilie, da hörte sie plötzlich ein undefinierbares Piepsen. Sie spitzte die Ohren, und Baba Lida wurde kreidebleich.
    »Was war das, Lida? Was piepst da so?«
    »Ich hab nichts gehört …«
    »Doch, da war gerade so ein Piepsen, so wie …«, die Direktorin lauschte, »so wie Mäuse oder … Hühner …«
    »Da sind keine Mäuse, Rajissa Wolodymyriwna, die würden ja an den Pflanzen nagen … Und Hühner? Wo sollten die denn herkommen?«
    Während die Direktorin zwischen den Regalen hin und her stapfte, blieb Baba Lida totenbleich am Eingang stehen. Wenn das mit den Hühnern auffliegen würde, wäre sie ihre Arbeit los.
    Doch da kam ihr Hund zu Hilfe, und Lena staunte nicht schlecht über deren Einfallsreichtum. Hund hüpfte hinter einem Regal hervor und piepste drauflos, und zwar so laut und meisterlich, wie es ein ganzer Hühnerstall nicht besser hätte machen können. Die Direktorin sprang erschrocken zur Seite und stieß dabei einen Eimer mit aufgeweichtem Hühnerdreck vom Regal, der ihr prompt auf den Kopf fiel.
    »Was ist das, Lida? Was macht die Scheiße da?!«
    Es war nicht klar, wen oder was genau sie damit meinte: den Hühnerdreck oder die piepsende Iwanka. Die blank geputzten schwarzen Schuhe und das silberglänzende Kostüm der Direktorin waren nun mit den Stoffwechselprodukten der Vögel besudelt.
    »Das ist Hühnerdreck. Den nehme ich zum Gießen, damit die Pflanzen besser wachsen.«
    »Ich will das hier nie wieder sehen! Pflanzen mit Scheiße gießen! Hast du sie nicht mehr alle?!«
    »Es wird nicht wieder vorkommen«, antwortete Baba Lida mit einem Lächeln.
    Damals konnte sie ihre Arbeit behalten, allerdings nicht für lange. Die Direktorin fand einen anderen Vorwand, um Baba Lida rauszuschmeißen und das Gewächshaus mit all seinen grünen Bewohnern an sich zu reißen.
    Lena kam aus Gewohnheit immer noch hierher und musste mitansehen, wie unumkehrbar und rasant der Prozess des Absterbens voranschritt. Der Gummibaum wurde gelb und verlor alle seine Blätter. Nach einem Jahr wurde er zu Brennholz zerhackt. Die Philodendren verschacherte die Direktorin an Neureiche, die sie in ihre schicken Büros stellten. Gerüchten zufolge kostete so eine Pflanze zweihundert Dollar. Die Kakteen gingen ein. Nur die Pelargonien
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