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Biografie eines zufälligen Wunders - Roman

Biografie eines zufälligen Wunders - Roman

Titel: Biografie eines zufälligen Wunders - Roman
Autoren: Residenz
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heiße Lena.«
    Dann ging sie nach Hause.
    In den folgenden Monaten sprach sie ausschließlich Russisch. Die Ärzte diagnostizierten das als eine Folge des Schocks. Lena sei noch glimpflich davongekommen, denn manche Kinder würden gar nicht mehr sprechen.
    Lena kam in einen anderen Kindergarten, am Eingang des Unglückskindergartens wurde eine Gedenktafel zu Ehren von Frau Dutt angebracht. »Sie opferte ihr Leben, um Kinderleben zu retten« war darauf zu lesen. Lena hat diese Tafel nie gesehen, sie war immer zu beschäftigt. Sie wartete ungeduldig darauf, dass endlich etwas Großes aus ihr rauskommen würde.

    In der Schule bekam Lena gute Noten und las viel, da sie der Meinung war, eine andere Begabung sei ihr nicht gegeben. Sie hatte keine Freunde und war immer allein mit ihren Büchern. Sie lebte in einer Fantasiewelt, die wenig mit der Welt zu tun hatte, wie wir sie kennen.
    Lena zog Außenseiter an, mit denen das Leben es nicht gut gemeint hatte. Später sollte sie in ihren Erinnerungen mit dem Titel »Die innere Schönheit der Ausgestoßenen« über diese Phase schreiben:
    »Sie sind unglücklich und allen außer mir egal. Nehmen wir als Beispiel Iwanka, meine damalige beste Freundin. Ich nannte sie ›Hund‹, und sie hatte nichts dagegen. Ich kann mir sogar vorstellen, dass sie den Namen ganz gern mochte. Sie hatte bis zur sechsten Klasse mit Müh und Not lesen und schreiben gelernt. Einfach und gutmütig wie sie war, ließ sie sich auf alle meine Abenteuer ein, begleitete mich überallhin, und wenn ich gesagt hätte, gehen wir ans andere Ende der Welt, dann wäre sie mitgegangen. Hund kam aus einer dreizehnköpfigen Familie, deshalb verbrachte sie ihre Nachmittage draußen oder bei mir zu Hause. Ich gab ihr zu essen, erzählte ihr von meinen Spinnereien, kämmte ihr die Haare und spielte manchmal mit ihr wie mit einer Puppe.«
    In der Schule saßen die beiden nebeneinander und Hund schrieb alles von Lena ab. Trotzdem schaffte sie es, jedes Mal Fehler zu machen und schlechte Noten zu bekommen. Die waren ihr allerdings nicht besonders wichtig, auf die Schule insgesamt legte sie keinen allzu großen Wert. Hund bereute nie etwas, denn um etwas bereuen zu können, muss man denken können, und das konnte sie nicht, weshalb sie auch glücklich und unbeschwert durchs Leben ging. Lena übernahm die Verantwortung für Hunds schulische Leistungen. Sie erklärte ihr den Lernstoff aus Biologie, Physik, Literatur und Geschichte. Letztere machte ihr besonders viel Spaß, denn hier konnte sie ihrer Fantasie freien Lauf lassen. Ein paarmal musste Hund Lehrgeld zahlen, als sie im Unterricht etwas wiedergab, das sie von Lena gehört hatte. Der strenge Lehrer für ukrainische Geschichte geriet völlig außer sich und warf sie hochkant aus dem Klassenzimmer.
    Diesen Vorfall nahm Hund Lena übel und Lenas Autorität kam ins Wanken. Da Hund jedoch nicht weiterwusste, kam sie schon bald wieder zurück und beschwerte sich:
    »Lena, du bist ein Lügenmaul.«
    »Und du bist eine Dumpfnudel.«
    Danach war alles wieder in Butter.
    Eine andere Jammergestalt aus Lenas Umfeld war eine ältere Floristin, die sich um das schuleigene Gewächshaus kümmerte. Die Frau hatte ein Bein, das zwölf Zentimeter kürzer war als das andere. Beim Gehen sah sie aus wie ein Schiff, das auf den Wellen hin- und herschaukelt und dabei immer weiter vom Ufer fortgetrieben wird. Lena nannte sie Baba Lida.
    Baba Lidas Gewächshaus war ein richtiger Urwald. Es roch nach Feuchtigkeit, Wärme und Ozon. Am Eingang stand ein riesiger, meterhoher Gummibaum. Weiter hinein musste man sich durch ein Dickicht aus Philodendren kämpfen, die aggressiv abstehende, ausgefranste Blattwedel hatten, die an Kraken-Fangarme erinnerten. Noch weiter hinten standen reihenweise Agaven und wollige, wie mit Schnee angezuckerte Kakteen. Und dann waren da noch Hunderte, ja Tausende Pflanzenarten, die Lena nie zuvor gesehen hatte.
    Baba Lida begoss ihren Urwald mit eingeweichtem Hühnerdreck, eine Behandlung, auf die sie auch das üppige Wachstum ihrer Pflanzen zurückführte. Man konnte ihnen beim Wachsen förmlich zusehen. Baba Lidas Kakteen blühten zweimal im Jahr und die Philodendren trugen Früchte, was für diese tropischen Pflanzen im gemäßigten Klima ganz und gar untypisch ist. Selbst die bescheidenen Pelargonien muteten bei Baba Lida wie exotische Prinzessinnen an.
    Lena und Hund verbrachten ganze Nachmittage im Urwald. Sie saßen auf winzigen Hockern unter den Philodendren
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