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Biografie eines zufälligen Wunders - Roman

Biografie eines zufälligen Wunders - Roman

Titel: Biografie eines zufälligen Wunders - Roman
Autoren: Residenz
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1    Wie sie sich und andere nannte
    Lena wurde in San Francisco geboren und nannte sich Lena.
    San Francisco ist eine ukrainische Kleinstadt, mehr im Westen als im Osten des Landes. Ihren Namen erhielt sie zum Andenken an diejenigen, die Anfang des 20. Jahrhunderts auf der Suche nach ihrem Traum in die USA ausgewandert waren. Die Daheimgebliebenen sagten: » Unser Amerika ist hier «, und tauften ihre Stadt »San Francisco«.
    Selbstverständlich hieß sie nach dem Zweiten Weltkrieg unter den Kommunisten anders, doch Lena nannte ihre Heimatstadt auch weiterhin bei ihrem amerikanischen Namen und behauptete sogar, das San Francisco in den USA sei weit weniger real als sein ukrainisches Gegenstück.
    Sich selbst bezeichnete sie ausschließlich als Lena, niemals anders. Sie hätte auch eine »Olena« oder »Olenka« sein können, aber sie verabscheute diese beiden Varianten ihres Namens noch viel mehr als das russische »Lena«, obwohl sie – wie die meisten Westukrainer – alles Russische wie die Pest hasste.
    Vermutlich aus Rache hat sich das Russische an ihren Namen gehängt und sie nie wieder losgelassen. So ist das mit den Dingen, die man hasst. Sie bleiben an einem kleben.
    Als Lena klein war, wurde sie gezwungen, ein Gedicht aus der Lesefibel auswendig zu lernen. Es handelte von der »kleinen Olenka«, die erste Strophe lautete: »Kleine Olenka, warum freust du dich so?« Und die Olenka aus dem Buch antwortete: »Meine Familie macht mich so froh!«
    Lenas Verwandte fanden das Ganze sehr spaßig und ließen sie das Gedicht bei Familientreffen immer wieder aufsagen. Lena lief dabei jedes Mal knallrot an und versuchte sich zu drücken, doch die Verwandten ließen nicht locker. Schließlich stellte sie sich zähneknirschend vor sie hin und deklamierte mit lauter Stimme: »Kleine Olenka, warum freust du dich so? Meiner Familie zeig ich den Po.« Danach bekam sie Ärger, musste in der Ecke stehen oder man redete ein, zwei Tage nicht mit ihr.
    Lena assoziierte den Namen Olenka mit Dummheit, und dumm zu sein war das Einzige, was sie ihr Leben lang vermeiden wollte, allerdings vergeblich.
    Als Kind hatte Lena ständig Angst, etwas zu verpassen, etwas Wichtiges nicht zu erfahren, und deshalb dumm zu sein. Später wurde ihr klar, dass niemand davor gefeit ist und dass Klugheit nicht davon abhängt, wie viele Bücher ein Mensch in seinem Leben gelesen hat. Klugheit, sagte Lena, erfordert Mut sich einzugestehen, was und wie man denkt. Zunächst muss man eine eigene Meinung haben, und mit der Zeit kommt dann vielleicht auch die Klugheit. Die eigene Meinung bildet jedenfalls die Grundvoraussetzung. Und man muss anderen zuhören und sich entscheiden: ihnen zuzustimmen oder doch lieber bei seiner eigenen Meinung zu bleiben. Man sollte sich selbst gegenüber ehrlich und gleichzeitig in der Lage sein, neue Sichtweisen zu übernehmen.
    Lenas Abneigung gegenüber allem Russischen konnte ihr nicht als Schuld ausgelegt werden. Zum einen wurde sie dort geboren, wo Russland aus dem Blickwinkel der historischen Gerechtigkeit gehasst werden musste. Zum anderen kam Lena genau zu jenem Zeitpunkt in den Kindergarten, als die Tanten dabei waren, das Lenin-Bild im Festsaal von der Wand zu reißen. Ganz offensichtlich hassten sie ihn von ganzem Herzen. Im Kindergarten hatte Lena oft gehört, dass die Ukraine sich von Lenin, von den Kommunisten und von vielen anderen Russen früher habe viel gefallen lassen müssen. Deshalb gebe es nicht den geringsten Grund, Russland zu mögen. Vor den Kommunisten war da noch das Russische Reich, welches die Ukraine als »Kleinrussland« bezeichnete und die ukrainische Sprache verbot. Lena erfuhr von Gefängnissen, in denen Ukrainer gesessen und gestorben sind, sie erfuhr von Sibirien, wohin ihre Landsleute in den sicheren Tod inmitten von Schnee, Tundra und Polarbären geschickt wurden. Lena lernte Lieder über junge ukrainische Männer, die in den Krieg zogen, um ihre Heimat zu verteidigen, wobei sie meistens ihre schwangere Verlobte daheim zurückließen. Diese Verlobte tat Lena immer sehr leid.
    Lena kannte die Lebensgeschichte des ukrainischen Nationaldichters Taras Schewtschenko in- und auswendig und weinte immer an der Stelle, wo der kleine Taras lernen will und der betrunkene Schulmeister ihn schlägt und ihn barfüßig zum Wasserholen an den Fluss schickt, obwohl es Winter ist. Es ist ungewiss, ob Lena gesagt wurde, der betrunkene Schulmeister sei ein Russe gewesen. Vielleicht war er auch Pole.
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