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Biografie eines zufälligen Wunders - Roman

Biografie eines zufälligen Wunders - Roman

Titel: Biografie eines zufälligen Wunders - Roman
Autoren: Residenz
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hielten sich noch lange. Sie halten überhaupt viel aus und sterben erst, wenn es gar nicht mehr anders geht.
    Nach ihrer Zeit im Gewächshaus ging Baba Lida in die Poliklinik putzen.
    Im Laufe ihres Lebens hatte sie schon alle möglichen Hilfsarbeiten verrichtet. Das Gewächshaus war dabei die einzige mehr oder weniger positive Ausnahme gewesen. Baba Lida war ihr Leben lang vom Pech verfolgt gewesen, das hatte sie Lena selbst erzählt. Sie sagte:
    »Das geschieht mir recht. Ich bin selber schuld an meinem verpfuschten Leben. Wenn ich alles, was ich angerichtet habe, wiedergutmache, wird es wieder besser. Nicht in diesem Leben, nein, aber vielleicht im nächsten. Oder im übernächsten.«
    Baba Lida interessierte sich für Esoterik und diverse Lehren über verloren gegangenes Wissen und verborgene Welten. Sie las die Werke von Helena Blavatsky und Nicholas Roerich und pseudowissenschaftliche Abhandlungen über den Weg der Arier. Sie legte sich tagelang die Karten, studierte verschlüsselte Botschaften in der Bibel, glaubte an Zeichen und Vorbestimmung und kochte Rosenblüten für den Winter ein. Lena sagte später, Baba Lidas Lebensstil sei noch nicht einmal der verrückteste von allen gewesen. Es hätte viel schlimmer kommen können und Baba Lida blieb immer lebensfroh und unverzagt.
    Sie sagte:
    »Als junge Frau war ich sehr hübsch. Die jungen Männer sind mir reihenweise zu Füßen gelegen. Aber ich habe sie ignoriert, sie die ganze Zeit beleidigt und mich immer nur über sie lustig gemacht. Ich war sehr stolz. Dann begann der Krieg und ich bekam ein paar Bombensplitter ab, unter anderem in den Bauch. Ich wurde direkt an der Front operiert, in den Katakomben, im ärgsten Dreck, ganz ohne Betäubung. Die Wunde wurde mit Selbstgebranntem desinfiziert. Der Arzt rechnete nicht damit, dass ich überlebe, und hat mich wie ein Schwein zusammengeflickt. Auf ihn warteten ja Hunderte andere verletzte Soldaten. Aber ich bin am Leben geblieben. Und glaub mir, Lena, das ist das Einzige, was ich wirklich an jedem einzelnen Tag meines Lebens bedaure. Meine ganze Familie ist im Krieg umgekommen, alle meine Bekannten. Mit siebzehn fing ich an, kreuz und quer durch die Weltgeschichte zu ziehen, war aber nirgendwo richtig zu Hause.«
    Nach der Operation war eines von Baba Lidas Beinen um zwölf Zentimeter kürzer. Sie war nun eine Behinderte. In den 1950ern kam sie nach San Francisco und bekam ihre erste Anstellung als Putzfrau. Von da an putzte sie öffentliche Toiletten. Bei dieser Arbeit lernte Baba Lida einen jungen Mann kennen, der zufällig da war, um seine Notdurft zu verrichten. Sie verliebte sich bis über beide Ohren in ihn. Der junge Mann schien auch von ihr sehr angetan zu sein.
    Ihre Beziehung zog sich in einem ständigen Auf und Ab über Jahre hin. Die Eltern des jungen Mannes – sie waren Professoren oder Zahnärzte – wollten der Heirat ihres einzigen Sohnes mit einer zugezogenen Behinderten nicht zustimmen. Sie versuchten sie auszuzahlen, bedrohten sie und konnten sie sogar ein paarmal wegen erfundener Diebstähle ins Gefängnis bringen. Als alle ihre Pläne scheiterten, schickten sie ihren Sohn zum Arbeiten nach Wladiwostok. Baba Lida hatte gerade seine Tochter zur Welt gebracht.
    »Der junge Mann war an sich kein schlechter Mensch«, sagte Baba Lida, »aber er hatte einen schwachen Willen. Er hat mich geliebt, er hat mir Briefe geschrieben und beteuert, dass er sich was einfallen lassen würde. Nach ein paar Jahren kamen keine Briefe mehr. Offenbar ist ihm doch keine Lösung eingefallen. Er war nicht sehr erfinderisch.«
    Die Eltern des jungen Mannes schickten Baba Lidas Tochter manchmal kleinere Geschenke zu Silvester. Baba Lida log, sie kämen von Väterchen Frost, und ihre Tochter glaubte an ihn, bis sie achtzehn war.
    »Schau mich doch an, Lena«, seufzte Baba Lida, »wofür hätte man mich lieben sollen? Eine Behinderte ohne Familie, ohne ein Zuhause. Mein ganzes Leben lang hab’ ich nur geputzt. Die ganze Mühe, die viele Arbeit, und die Welt ist trotzdem nicht sauberer geworden.«
    Baba Lida hatte einen wiederkehrenden Albtraum. In ihrem Traum fliegt sie unter der Zimmerdecke umher, während im Zimmer unter ihr Menschen in weißen Kitteln umherlaufen und sie einfangen wollten. Im Zimmer steht ein riesiger Fleischwolf, der auf Hochtouren läuft. Er arbeitet.
    Baba Lida hört das Knacken von Menschenknochen und hat große Angst. Es riecht nach Blut. Sie hört kleine Kinder und stolze Männer schreien.
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