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Biografie eines zufälligen Wunders - Roman

Biografie eines zufälligen Wunders - Roman

Titel: Biografie eines zufälligen Wunders - Roman
Autoren: Residenz
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die anderen dorthin. Nicht mehr ganz taufrische Ehepaare ließen sich nach vierzig gemeinsamen Ehejahren kirchlich trauen, andere ließen sich nach allen Regeln der Kunst taufen und wieder andere überschrieben der Kirche in seliger Verzückung ihr gesamtes Hab und Gut. Und alle standen sie vor Ostern bei den Pfarrern Schlange, um ihre Sünden zu beichten.
    Lenas Lehrerin für christliche Ethik nahm die ganze Klasse zur Beichte mit. Es war das erste und einzige Mal, dass Lena öffentlich Buße tat.
    Die Schüler warteten in der endlos langen Reihe und besprachen ihre Missetaten. Lena hatte große Angst, weil sie nicht wusste, was sie beichten sollte, doch ihre Mitschülerin Ira hatte einen Tipp für sie.
    »Du musst sagen: Ich war frech zu meinen Eltern, ich war faul, ich habe schlecht über andere gedacht.«
    Als Lena dran war, wiederholte sie den Ratschlag Wort für Wort. Der Pfarrer strich ihr über den Kopf und gab ihr auf, zwölfmal das Vaterunser zu sprechen.
    »Entschuldigung«, sagte Lena zum Abschied, »aber ich glaube außerdem auch nicht so recht an Gott.«
    Der Pfarrer blickte sie nicht an und erwiderte nur:
    »Dann dreizehnmal.«
    Lenas Onkel – genaugenommen war er nicht ganz ihr Onkel, aber das würde jetzt zu weit führen – war nicht nur erklärter Gegner des Betens, er sprach sich auch bei jeder Gelegenheit dagegen aus. Und eine Gelegenheit bot sich immer. Er konnte es einfach nicht lassen. Ständig versuchte er, andere davon zu überzeugen, dass der Glaube an Gott nicht mit den Grundsätzen der Wissenschaft vereinbar ist.
    Lena nannte ihn den ungläubigen Thomas.
    Die plötzliche kollektive Bekehrung zum Glauben setzte Lenas Onkel mehr zu als der ewige Geldmangel, die Unfruchtbarkeit seiner beiden Töchter und die Tatsache, dass sein Sohn für nichts und wieder nichts in Afghanistan ermordet worden war. Der Kampf gegen Gott war der Beruf des Onkels. Er unterrichtete wissenschaftlichen Atheismus an der Universität und soll nebenher auch für die sogenannten »Organe« gearbeitet haben.
    Was das für »Organe« waren, wusste Lena nicht. Sie dachte an ein illegales Krankenhaus, wo minderjährige Mädchen Abtreibungen machen konnten und reichen Parteifunktionären Nieren von armen Menschen transplantiert wurden. Ob der Onkel andere Professoren verleumdet und sie beim KGB angezeigt oder ob er mit seiner Unterschrift von irgendeinem Büro aus selbst über menschliche Schicksale gerichtet hatte, war nicht bekannt. Der Mann hatte jedenfalls einen ziemlich angeknacksten Ruf. Dennoch machte der Onkel einen intelligenten und kultivierten Eindruck, ganz so, wie es sich für einen Diener des Teufels gehört (so nannte man ihn hinter seinem Rücken). Er konnte professionell diskutieren, ohne jemals laut zu werden, und gewann jedes Streitgespräch. Bei Familienfeiern in Lenas elterlicher Wohnung konnte ihm niemand das Wasser reichen.
    Es war sehr bezeichnend, dass er mit seiner Frau jedes Jahr am zweiten Ostertag zu Besuch kam und sich, während die anderen bei köstlicher hausgemachter Wurst, Eiern vom Bauernhof, Käse und geriebenem Meerrettich kräftig zulangten, darüber ausließ, wie dumm sie alle wären, hier so zusammenzusitzen und sich zu freuen, dass entgegen aller Logik und wissenschaftlichen Erkenntnis eine menschliche Leiche in den Himmel aufgefahren ist.
    Was Lena anging, so freute sie sich über die Wurst und die Eier, die es bei ihr zu Hause das ganze Jahr über nicht gab, und hielt sich aus den Diskussionen heraus. Ihren Onkel assoziierte sie übrigens auch mit Wurst. Sogar seine Wangen waren wurstrot. Er schwadronierte:
    »Wann begreift ihr endlich, dass die Religion für Leute wie euch erfunden wurde, die arm und unglücklich sind, damit sie nicht aufmucken, vom Leben nach dem Tod träumen und vom diesseitigen Leben nichts erwarten? Es ist doch wissenschaftlich erwiesen, dass Jesus eine historische Gestalt war. Möglicherweise hatte er sogar gewisse paranormale Fähigkeiten. Aber in China hat jeder Zweite so eine Begabung! Sogar bei uns findet man diese Wunderheiler schon an jeder Straßenecke.«
    Lenas Großvater, der immer nur trinken und rauchen wollte, mochte den Onkel, hatte aber keinen Respekt vor ihm. Wenn der Großvater zu viel trank, raunzte er:
    »Ach, halt doch endlich dein blödes Maul. Es ist auch ohne dich schon beschissen.«
    Vor Kränkung ließ der Onkel sich bis zum nächsten Osterfest nicht blicken. Er hatte eine nette, schweigsame Frau, die immer schick gekleidet war und
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