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Das sechste Herz

Das sechste Herz

Titel: Das sechste Herz
Autoren: Claudia Puhlfürst
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Prolog
    »Ja, wenn dir einer eurer Herren Chirurgen das Herz aus dem Leibe operieren wollte, da müßtest du wohl sterben; bei mir ist dies ein andres Ding; doch komm herein und überzeuge dich selbst.« Er stand bei diesen Worten auf, öffnete eine Kammertür und führte Peter hinein. Sein Herz zog sich krampfhaft zusammen, als er über die Schwelle trat, aber er achtete es nicht, denn der Anblick, der sich ihm bot, war sonderbar und überraschend. Auf mehreren Gesimsen von Holz standen Gläser mit durchsichtiger Flüssigkeit gefüllt, und in jedem dieser Gläser lag ein Herz, auch waren an den Gläsern Zettel angeklebt und Namen darauf geschrieben, die Peter neugierig las; da war das Herz des Amtmanns, das Herz des dicken Ezechiels, das Herz des Tanzbodenkönigs, das Herz des Oberförsters; da waren sechs Herzen von Kornwucherern, acht von Werboffizieren, drei von Geldmäklern – kurz, es war eine Sammlung der angesehensten Herzen in der Umgegend von zwanzig Stunden.
    Schnelle Schritte näherten sich. Vorsichtig legte er den Finger zwischen die Seiten, klappte das Buch zu und lauschte, ob der Jemand hereinkommen würde, aber das Getrappel entfernte sich schnell wieder. An Märchen war nichts Ungehöriges. Er hatte sein Interesse für diese Art von Literatur entdeckt, nachdem die Stimme ihn darauf aufmerksam gemacht hatte. Schon Kinder bekamen Märchen vorgelesen. Obwohl das, was dieser Wilhelm Hauff aufgeschrieben hatte, ziemlich starker Tobak für die Kleinen war. Aber der rote, pulsierende Klumpen in der Brust schien Dichter, Märchenerzähler und Sänger schon immer fasziniert zu haben. Was ja auch kein Wunder war. Er klemmte einen abgerissenen Papierfetzen zwischen die Seiten und schob das Buch beiseite.
    Das Herz galt seit Jahrtausenden als Sitz der Seele, als emotionales Zentrum, als Bewahrer der unverwechselbaren Eigenheiten des Menschen. Es war untrennbar verbunden mit Verliebtheit und Liebe und brachte so zugleich eine bittere Mitgift mit: Eifersucht, Enttäuschung, Trauer und sogar Hass beim Verlust des geliebten Objekts – das sprichwörtliche gebrochene Herz, Herzschmerz.
    Herz
Herz, Herz
Ein Herz ist ein Herz ist ein Herz
    Ohne dass er es wollte, kritzelte der Bleistift Worte auf den karierten Block, sinnlose Splitter seiner Gedanken. Hastig verdeckte er die Zeilen mit der Handfläche. Es war verboten, etwas aufzuschreiben. Das hatte die Stimme ihm eindringlich befohlen. Niemand durfte irgendwelche Aufzeichnungen finden, alles musste in seinem Kopf stattfinden, nur in seinem Geist sein, sonst gefährdete er das Projekt.
    Und doch wollte die Hand unentwegt den Stift über das Papier führen, Gedankenfetzen aufschreiben, Ideen, Bruchstücke, Zitate aus den Märchen, Gedichtfragmente. Ohne es zu merken, hielten seine Zähne sich an dem Bleistift fest und bissen immer tiefer in das weiche Holz. Er würde den Zettel aufessen müssen. Ihn in winzige Teile zu zerreißen wäre nicht sicher genug. Wie in Zeitlupe zog er einen langen dünnen Streifen ab und begann zu kauen.
    Um sich abzulenken, griff er erneut nach dem Märchenbuch und senkte seinen Blick auf die verschnörkelten Buchstaben. Das Herz fand sich in allen Geschichten, hier fasste sich einer ein Herz, da verlor ein anderer seines, dort hörte der nächste auf die Stimme seines Herzens. Herzen allüberall.
    Ein kurzes Grinsen huschte über sein Gesicht, dann riss er den nächsten Fetzen von dem Block. Das Papier schmeckte gar nicht schlecht.
    Neben all diesen Metaphern war das Herz jedoch schlicht auch ein Organ. Es pumpte Blut durch den Körper. Rubinfarbenes Lebenselixier. Aber er vermischte schon wieder die Ebenen. Es war nicht leicht, sich auf die vor ihm liegenden Aufgaben zu konzentrieren. Sein Zeigefinger wanderte zu dem Fleck am Hinterkopf, wo das Haar schon ganz dünn wurde, und kratzte. Dort, wo sie ihm die Elektroden eingepflanzt hatten. Die Stimme hatte ihm erklärt, dass man die Stelle fühlen könnte, wenn man sich bemühte. Und es stimmte. Er hatte die kleine Erhebung schon oft ertastet.
    Ohne Herz konnte kein Tier und kein Mensch überleben, es war der Ursprung allen Seins. Natürlich war ihm bewusst, dass diese Aussage nicht ganz korrekt war. Es gab durchaus Tiere, die ohne Herz auskamen, ja sogar ohne Blut. Aber das waren primitive Wesen, sie vegetierten ohne Bewusstsein auf einem niederen Niveau dahin, besaßen keinen Geist. Über allem stand der Mensch. Folglich besaß er auch das am höchsten entwickelte Herz. Die Stimme hatte
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