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Aus reiner Notwehr

Aus reiner Notwehr

Titel: Aus reiner Notwehr
Autoren: Karen Young
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1. KAPITEL
    “S o ist’s richtig … ja, prima.” Kate Madison nickte zustimmend, als die etwas unsichere Assistenzärztin versuchte, den zerschundenen und blutverschmierten Patienten zu intubieren. “Okay. Umfassen Sie sein Kinn mit der linken Hand, Betsy – schauen Sie her, so. Und nun halten Sie ihn etwas schräg – passen Sie auf, dass Sie den Rachenraum nicht verletzen. So, genau! Sehen Sie! Schon ist er drin!”
    “Ich hab’s geschafft!” Die Assistenzärztin stieß einen Seufzer aus, wandte sich dann um und schaute Kate forschend an, als könne sie in deren Gesicht einen Hinweis finden. “Und nun?”
    “Sagen Sie’s mir, Betsy.”
    “Er muss zur Computertomographie.”
    “Richtig.” Der Patient – sechzehn Jahre alt, männlich – hatte sich schwerste Kopfverletzungen zugezogen, als er durch die Frontscheibe eines Autos geschleudert worden war. Seit man ihn zehn Minuten zuvor in die Notaufnahme eingeliefert hatte, befand er sich in einer Art Dämmerzustand, und Phasen von Wachsein und Bewusstlosigkeit wechselten sich ab.
    “Aber erst muss sein Zustand stabil sein, ehe wir ihn hochschicken, oder?”
    “Ja.” Kate gab einem anderen Assistenzarzt ein Zeichen. “Felix, übernehmen Sie hier mal bitte?”
    Sie wandte sich ab, seufzte erschöpft, streifte sich die Einweghandschuhe von den Händen und warf sie auf dem Weg zum Aufenthaltsraum in einen Abfallbehälter. Nicht nur dass den ganzen Abend keine Zeit für eine Tasse Kaffee gewesen war: Seit ihrem Dienstantritt um sieben Uhr früh hatte sie außer einem Schokoriegel noch nichts gegessen.
    Der Freitagabend war in der Notaufnahme eines jeden Krankenhauses nervenaufreibend, und das St. Luke Hospital machte da keine Ausnahme. Obwohl es in Boston strenge Waffenkontrollbestimmungen gab, hatten sie und ihr Ärzteteam bereits zwei Patienten mit Schussverletzungen behandelt. Wie Schüsse aus einer Schnellfeuerwaffe folgten dann dicht nacheinander ein vierzehnjähriger Junge, der vom Rottweiler seines Nachbarn angefallen worden war, eine zweiundvierzigjährige Diabetikerin im Zuckerkoma, ein paar Junkies mit einer Überdosis Crack, eine Prostituierte, die von einem impotenten Freier verprügelt worden war, und drei College-Studenten, die man bewusstlos im Park aufgefunden hatte – mit einem Alkoholspiegel, der um das Dreifache über dem gesetzlich zulässigen Limit lag. Gerade wartete ein Team auf die Einlieferung eines Unfallopfers per Rettungshubschrauber – komplizierte Knochenfrakturen unterhalb des Knies, Schnittverletzungen im Gesicht und Schädeltrauma, Kehlkopfquetschung. Geschätzte Ankunft: in sechs Minuten. Bisher war keiner der Patienten gestorben, aber das konnte sich mit dem Verkehrsunfall ändern. Da Felix sich um den Sechzehnjährigen kümmerte, konnte sie sich vielleicht eine Tasse Kaffee genehmigen und kurz die Toilette aufsuchen.
    Der Kaffee war stark, schwarz und viel zu süß, aber er ließ Adrenalin in ihren allmählich nachlassenden Organismus einströmen, dazu Säure und leere Kalorien. Sie riss eine Packung Salzbrezel auf – nicht, weil sie besonders hungrig gewesen wäre, sondern weil in letzter Zeit ihr Magen rebelliert hatte, da ihre Ernährung überwiegend aus Koffein und Fast-Food-Mahlzeiten bestand. Sie aß lediglich eine, warf den Rest in den Müll und nahm sich vor, wieder etwas Anständiges zu kochen, wenn sie nach Hause kam. Aber Gott allein wusste, wann das sein würde, obgleich sie bereits eine Vierzehn-Stunden-Schicht hinter sich hatte.
    Kate blickte auf ihre Armbanduhr und überlegte kurz, ob sie ihren Anrufbeantworter abfragen sollte. Maureen Reynolds, ihre Rechtsberaterin, hatte bereits vier Wochen lang versucht, sich mit Roberts Anwalt zu treffen. Kate war jetzt seit sechs Monaten geschieden, und noch immer hatte sie den Scheck mit der Abfindung aus dem Verkauf ihres gemeinsamen Hauses nicht bekommen. Sie musste außerdem wissen, ob ihre Mutter angerufen hatte. Vor dem Verlassen der Wohnung am Morgen hatte sie zwei Mal versucht, sie zu erreichen, und tags zuvor ebenfalls mehrmals, ohne Erfolg. Ihre Mutter weigerte sich, einen Anrufbeantworter anzuschaffen. Warum sie sich solch einer nützlichen Errungenschaft widersetzte, war Kate ein Rätsel. Allerdings waren ihr viele Dinge ein Rätsel, die ihre Mutter betrafen.
    Als sie den Aufenthaltsraum verließ, wurde ihr Blick von hektischer Betriebsamkeit angezogen, die am Eingang zur Notaufnahme herrschte. Pulsierende rote Lichtblitze huschten zuckend über die
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