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Wie ich mir das Glück vorstelle

Wie ich mir das Glück vorstelle

Titel: Wie ich mir das Glück vorstelle
Autoren: Martin Kordić
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DER JUNGE
    Der Junge hat die Aufgabe, Wasser an die Pilger auf dem Erscheinungsberg zu verteilen. Der lange Weg hoch zum Gipfel und die große Hitze machen alle sehr durstig. Der Junge sitzt jetzt aber ein paar Kilometer vom Sehergebirge entfernt vor Bubkas kleinem Laden. Er macht die Aufgabe heute nicht. Keiner aus der Gemeinschaft von den Söhnen Marias darf das wissen. Der Junge trinkt heute schon die dritte Fanta. Der Junge bin ich selbst, Viktor.

    Ich habe einigen Schaden an meinem Körper. Als ich zur Welt komme, haben die Menschen gleich eine Menge mit mir zu tun. Maria, o Maria. Ich habe damals schon ein ordentliches Rückenproblem. Ich bin so schief und steif, dass die Oma und die Mutter mich wochenlang nur in Tücher wickeln können. Dass mit meinem Kopf was nicht stimmt, findet nie ein Doktor raus. Ich selbst weiß auch nicht, was mir da fehlen soll.
    Aber wenn die anderen mich loswerden wollen, sagen sie: Du Kretin!
    Ich sitze vor Bubkas kleinem Laden auf dem Schotter. Ich kneife die Augen zusammen. Die Sonne hängt mir über dem Gesicht. Sie lässt sich nicht vertreiben. Staub fegt mir von hinten in die Wunde. Unter dem Druck von der Rückenspinne wird die Wunde in den letzten Wochen wieder größer. Das Unterhemd hat abends an dieser Stelle immer einen großen braunen Fleck. Mir tut da aber gar nichts weh. Auf den Schultern habe ich seit dem Beginn der großen Hitze einen starken Sonnenbrand. Das Fleisch ist rot und nass.
    Ich gucke rüber zur Straße. Da steht ein Mann vor einem Baum. Der Baum ist eine Kiefer und gehört zu einer ganzen Reihe von Kiefern. Die stehen am Rand von der Straße, über die alle Menschen fahren müssen, die hier leben. Auch ich komme auf dieser Straße zu Bubka. Es ist die einzige Straße.
    Bubka schnauft und sagt: Verfluchte Hitze!
    Ich sage: Verfluchte Hitze!
    Es sieht so aus, wie wenn mir der Mann, den ich angucke, zuwinkt. Das kann aber gar nicht sein. Außerhalb von der Gemeinschaft kenne ich keinen. Dass ich zu den Söhnen Marias gehöre, sieht mir keiner an. Wir sehen aus wie alle. Nur Bubka weiß über mich Bescheid. Bubka selbst steht aber hinter mir in seinem kleinen Laden.
    Die Sonne brennt so stark, dass ich den Mann nur verschwommen sehen kann. Ich kann erkennen, dass er abgeschnittene Jeans und ein gelbes Hemd trägt. Er macht sich an einem Baumstamm zu schaffen. Der Mann nagelt was an den Baum. Er geht weiter. Er lässt einen Baum aus und macht sich am nächsten zu schaffen. Er nagelt schon wieder eine Menge Dinge an den Baum. Jetzt kann ich erkennen, was es ist. Es sind Zettel.
    Bubka sagt: Jeder noch so dreckige Köter verreckt doch bei dieser verdammten Hitze!
    Ich sage: Verdammte Hitze!
    Ich darf nicht vor Bubkas kleinem Laden sitzen. Auch Gebete können da nichts ausrichten. Der Betrug fällt in der Gemeinschaft nicht auf, weil Bubka mir jeden Tag ein paar Münzen in die Büchse wirft. Das ist die Büchse für die Spenden. Ich muss sie abends den beiden Schwestern geben, die mich abholen. Bubka ist ein guter Mann. Morgens sammelt er mich mit dem Bus am Erscheinungsberg ein und abends fährt er mich wieder hin. Bei Bubka verstecke ich auch meine Sachen. Keiner in der Gemeinschaft darf das wissen.
    Bubka passt auf diese Dinge auf:
    x   das Foto
    x   das versteinerte Stück Holz
    x   den Grundig Yacht Boy 500
    x   den Zauberwürfel
    Seit Jahren arbeite ich an der Lösung von dem Würfel. Ich bin so nah dran wie noch nie zuvor. Außerdem habe ich neuerdings ein Taschenmesser. Das habe ich immer bei mir. Ich schiebe es unter die Rückenspinne. Es hilft mir, als einer von meinen Brüdern verraten will, dass ich beim Morgengebet in der Kapelle wieder einschlafe. Ich gehe nach dem Frühstück zu ihm hin und ziehe das Messer raus. Ganz langsam klappe ich die Sägeklinge auf, damit ich mich selbst nicht verletze. Ich halte dem Jungen das Messer ans Ohr.
    Ich sage: Du Missgeburt.
    Männer versammeln sich um die Bäume mit den Zetteln. Ich gehe langsam auf sie zu. Sie schauen mich an. Ich trage nur die Sporthose. Das Unterhemd liegt bei Bubka im Kühlschrank.
    Die Brüder in der Gemeinschaft sagen: Mit der Rückenspinne siehst du aus wie ein Krieger aus der Spezialeinheit.
    Die Zettel sind weiß und haben einen schwarzen Rand. Auf einem von den Zetteln erkenne ich sofort das Gesicht von einer Schwester aus der Gemeinschaft. Das sind Todesanzeigen für die Gemeinschaft von den Söhnen Marias aus dem Sehergebirge. Meine Gemeinschaft. Meine Brüder. Auf jedem
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