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Das Buch der verlorenen Dinge

Das Buch der verlorenen Dinge

Titel: Das Buch der verlorenen Dinge
Autoren: John Connolly
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    Von allem, was gefunden, und
    allem, was verloren wurde
     
     
     
    Es war einmal – denn so sollten alle Geschichten beginnen – ein Junge, der seine Mutter verlor.
    In Wirklichkeit verlor er sie schon seit langer Zeit. Die Krankheit, die sie tötete, war hinterhältig und feige, sie fraß sie von innen her auf, verschlang langsam das Licht in ihrem Innern, sodass der Glanz in ihren Augen mit jedem Tag ein wenig matter und ihre Haut ein wenig blasser wurde.
    Und während sie ihm nach und nach gestohlen wurde, wuchs die Angst des Jungen, sie irgendwann ganz zu verlieren. Er wollte, dass sie dablieb. Er hatte keine Geschwister, und obwohl er seinen Vater sehr gern hatte, musste man doch sagen, dass er seine Mutter mehr liebte. Er mochte sich nicht vorstellen, wie ein Leben ohne sie sein würde.
    Der Junge – er hieß David – tat, was er konnte, um seine Mutter am Leben zu halten. Er betete. Er gab sich Mühe, brav zu sein, damit sie nicht für seine Fehler bestraft wurde. Er bewegte sich im Haus so leise wie nur möglich und dämpfte die Stimme, wenn er mit seinen Zinnsoldaten Krieg spielte. Er dachte sich bestimmte Verhaltensregeln aus und bemühte sich, diese stets zu befolgen, denn er glaubte, dass das Schicksal seiner Mutter zumindest zum Teil von der Einhaltung dieser Regeln abhing. Wenn er morgens aufstand, stellte er immer zuerst den linken Fuß auf den Boden, dann den rechten. Er zählte immer bis zwanzig, wenn er sich die Zähne putzte, und hörte sofort auf, wenn er fertig gezählt hatte. Er berührte die Wasserhähne im Bad und die Türklinken immer eine bestimmte Anzahl von Malen. Ungerade Zahlen waren schlecht, aber gerade waren gut, und zwei, vier und acht waren besonders gut. Sechs mochte er nicht, denn sechs war zwei mal drei, und drei war der zweite Teil von dreizehn, und dreizehn war überhaupt die schlimmste Zahl.
    Wenn er mit dem Kopf gegen irgendetwas stieß, stieß er noch ein zweites Mal dagegen, damit es eine gerade Zahl ergab, und manchmal musste er es mehrmals wiederholen, weil sein Kopf zurückprallte und die Wand traf, sodass er mit dem Zählen durcheinanderkam, oder sein Haar versehentlich die Tapete streifte, sodass ihm schließlich der Schädel brummte und ihm ganz schwummrig und übel wurde. Während der schlimmsten Krankheitszeit seiner Mutter trug er ein ganzes Jahr lang dieselben zwei Dinge morgens als Erstes aus seinem Zimmer hinunter in die Küche und abends als Letztes wieder hinauf: einen kleinen Band mit einer Auswahl von Grimms Märchen und einen eselsohrigen Magnet- Comic.Das Buch musste genau mittig auf dem Comic liegen, und beide zusammen mussten abends genau bündig auf der Ecke seines Bettvorlegers liegen und morgens auf dem Sitz seines Lieblingsküchenstuhls. Auf diese Weise trug David zum Überleben seiner Mutter bei.
    Jeden Tag nach der Schule setzte er sich zu ihr ans Bett. Manchmal sprach er mit ihr, wenn sie sich dazu kräftig genug fühlte, doch meist sah er ihr nur beim Schlafen zu, zählte jeden ihrer mühevollen, keuchenden Atemzüge und hoffte inständig, dass sie bei ihm blieb. Oft brachte er sich ein Buch mit, um zu lesen, und wenn seine Mutter wach war und ihr Kopf nicht zu sehr schmerzte, bat sie ihn, ihr etwas vorzulesen. Sie hatte ihre eigenen Bücher- Liebes- und Kriminalromane und dicke, schwarz eingebundene Bücher mit winziger Schrift –, doch sie zog es vor, wenn er ihr alte Geschichten vorlas, Sagen und Legenden und Märchen, Geschichten von Burgen und Abenteuern und gefährlichen, sprechenden Tieren. David hatte nichts dagegen. Obwohl er mit seinen zwölf Jahren kein richtiges Kind mehr war, mochte er diese Geschichten noch immer und dass seine Mutter Gefallen daran fand, sie sich von ihm vorlesen zu lassen, verstärkte seine Freude daran noch.
    Bevor sie krank wurde, hatte Davids Mutter ihm oft gesagt, dass Geschichten lebendig waren. Nicht auf dieselbe Art wie Menschen oder Hunde oder Katzen. Menschen waren lebendig, ob man sie zur Kenntnis nahm oder nicht, während Hunde gewöhnlich dafür sorgten, dass man sie zur Kenntnis nahm, wenn sie das Gefühl hatten, dass man sie zu wenig beachtete. Katzen wiederum waren bisweilen sehr geschickt darin, so zu tun, als würde man überhaupt nicht existieren, aber das war wieder eine ganz andere Sache.
    Geschichten waren anders: Sie wurden lebendig durch das Erzählen. Ohne eine menschliche Stimme, die sie vorlas, oder ein Paar gebannt aufgerissene Augen, die sie beim Licht einer Taschenlampe unter
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