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Engelsmorgen

Engelsmorgen

Titel: Engelsmorgen
Autoren: Lauren Kate
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Prolog
    Neutrale Gewässer
    Daniel schaute auf die Bucht hinaus. Seine Augen waren so grau wie der dicke Nebel, der die gegenüberliegende Küste von Sausalito einhüllte. So grau wie die aufgewühlte See, deren Wellen an den Kiesstrand zu seinen Füßen schlugen. Keine Spur von Violett schimmerte in diesem Moment in seinen Augen, das spürte er ganz deutlich. Dafür war er zu einsam, dafür war sie zu weit weg.
    Er schlang die Arme fest um sich, aber es hatte keinen Zweck. Vom Wasser wehte ein kalter, beißender Wind. Auch seine dicke schwarze Marinejacke schützte ihn nicht dagegen. Wenn er auf der Jagd war, fror es ihn immer.
    Nur eines hätte ihn wärmen können – doch sie war nicht da. Wie gern hätte er jetzt seine Lippen auf ihre gedrückt. Für einen kurzen Moment stellte er sich vor, er würde die Arme um ihren Körper legen, würde sich zu ihr hinunterbeugen, um sie zu küssen. Aber es war gut, dass Luce nicht da war. Was sie zu sehen bekäme, würde sie zu Tode erschrecken.
    Das heisere Blöken und Bellen der Seelöwen, die sich hinter ihm an der Südküste von Angel Island drängten, klang so, wie er sich fühlte: innerlich zerrissen, einsam und ohne Hoffnung, dass jemand seine verzweifelten stummen Rufe hörte.
    Niemand außer Cam.
    Er kauerte vor Daniel und befestigte einen rostigen Anker an der wie ein nasser Sack daliegenden Gestalt zu ihren Füßen. Sogar bei der Verrichtung einer so finsteren Tätigkeit sah Cam noch gut aus. Seine grünen Augen funkelten, seine kurz geschnittenen Haare glänzten schwarz. Es lag an dem Waffenstillstand, der die Gesichter der Engel immer zum Leuchten brachte, ihren Haaren einen ganz anderen Glanz verlieh, ihre makellosen, muskulösen Körper noch männlicher machte. Waffenstillstand war für die Engel, was Strandurlaub für die Menschen war – die reinste Erholung.
    Obwohl Daniel jedes Mal innerlich stöhnte, wenn er ein Menschenleben beenden musste, wirkte er nach außen hin wie jemand, der gerade von einer Woche Urlaub in Hawaii zurückkam: entspannt, erholt, braun gebrannt.
    Cam zurrte einen komplizierten Knoten fest und sagte: »Typisch Daniel. Tritt vornehm zur Seite und lässt mich die Drecksarbeit machen.«
    »Was redest du da? Ich habe ihn schließlich erledigt.« Daniel sah auf den toten Mann hinunter, auf seine borstigen grauen Haare, auf die weiße Stirn, auf die knotigen Hände und billigen Gummigaloschen, auf die klaffende dunkelrote Wunde quer über seiner Brust. Daniel ergriff ein Schauder, ihn fror bis auf die Knochen. Wenn das Töten nicht notwendig wäre, um Luce immer wieder zu retten, würde er nie mehr eine Waffe erheben. Niemals mehr einen Kampf kämpfen.
    Es war nicht richtig gewesen, dass sie diesen Mann getötet hatten. Irgendetwas sagte ihm, dass das ein Irrtum und Fehler war. Ein unbestimmtes, verstörendes Gefühl.
    »Sie umzulegen, macht ja noch Spaß.« Cam schlang das Seil um die Brust des Mannes und verknotete es unter den Achseln. »Die Leichen dann für immer im Meer verschwinden zu lassen, das ist eine Plackerei.«
    Daniel blickte auf den blutrot gefärbten Stock, den er vor Kurzem noch in der Hand gehalten hatte. Cam hatte bei dieser Wahl kichern müssen, aber die Wahl der Waffe spielte überhaupt keine Rolle. Daniel konnte mit allem töten.
    »Beeil dich«, blaffte er. Der Spaß, den Cam am Blutvergießen hatte, ekelte ihn an. »Die Zeit verrinnt. Ebbe ist gleich vorbei.«
    »Und wenn wir es nicht ordentlich machen, auf meine Weise, dann wird die nächste Flut Slayer sofort wieder an Land spülen. Du bist zu unbeherrscht, Daniel, das war schon immer so. Denkst du jemals einen Schritt voraus?«
    Daniel schaute wieder aufs Wasser hinaus, auf die grauen Wogen mit ihren schmutzigen Schaumkronen. Vom Pier in San Francisco glitt ein Katamaran auf sie zu. Der Anblick dieses Schiffs hätte früher alle möglichen Erinnerungen in ihm wachgerufen. An unzählige Schifffahrten, die er in unzähligen Leben mit Luce unternommen hatte. Und wie glücklich er immer mit ihr gewesen war. Aber jetzt – da sie sterben konnte und womöglich nie mehr wiederkam, weil diesmal in ihrem Leben alles anders war und keine weiteren Wiedergeburten mehr stattfinden würden – war Daniel sich nur allzu schmerzhaft bewusst, wie blank Luces eigenes Gedächtnis war. Diesmal ging es um alles, es war der letzte Versuch. Für sie beide. Für alle und jedermann eigentlich. Deshalb kam es darauf an, dass Luce sich erinnerte, nicht er. Wenn sie überleben sollte,
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