Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Ort der Angst (German Edition)

Ort der Angst (German Edition)

Titel: Ort der Angst (German Edition)
Autoren: Mala Wintar
Vom Netzwerk:
Kapitel 1
     
    Die Tempelstadt lag in tiefem Schlaf, während Fledermäuse wie eine schwarze Wolke vorüberjagten und ihre spitzen Schreie ausstießen. Auch in dieser Nacht fand der junge Gottkönig in seinem Palast keine Ruhe. Vergebens versuchte Ek Balam, sich auf die kunstvollen Abbildungen und Glyphen zu konzentrieren, die im unsteten Licht der Öllampen vor seinen Augen verschwammen. Seit Tagen verbarrikadierte er sich in seinen Gemächern und ließ kaum jemanden in seine Nähe. Nur seine vertrautesten Diener durften es tagsüber wagen, sich mit einem stärkenden Getränk zu nähern. Davon abgesehen weigerte sich der König, etwas zu sich zu nehmen.
    Fieberhaft suchte er Rat in den alten Aufzeichnungen. So vieles von dem Wissen seines einst mächtigen Volkes war im Laufe der Jahrhunderte durch Kriege verlorengegangen. Noch immer verzehrten die Konflikte machtgieriger Kriegsherren und selbsternannter Gottkönige das Land und hielten die Maya von ihren einstigen Metropolen fern.
    Auch Ek Balam hatte in unzähligen Schlachten Tod und Verwüstung über das Volk gebracht. Aber ihm ging es nicht allein darum, als oberster Fürst den Titel des Halach Huinik zu tragen. Ihm war es gelungen, zahlreiche Dörfer und Regionen zu vereinen. Unter seiner Führung waren die Menschen in diese einst verlassene Stadt zurückgekehrt, um sie wieder aufzubauen.
    Noch hielt sein Ruf als unerbittlicher Gegner andere Machthungrige auf Distanz. Neu errichtete Wehranlagen boten der Stadt zusätzlichen Schutz. Doch was nützte ein brüchiger Friede, wenn es nicht genug zu essen gab? Jahr für Jahr schrumpften die Erträge der Maisfelder, weil die Böden an Fruchtbarkeit einbüßten. Wie sollte er sein ständig wachsendes Volk ausreichend ernähren? Besonders jetzt, da ihnen der Regengott Chaac den lebensnotwendigen Segen verweigerte. Falls die Felder tatsächlich verdorrten, war eine Hungerkatastrophe unausweichlich. Ek Balam musste das Wachaufkommen vor den Getreidespeichern schon jetzt verdoppeln lassen, um die Notreserven vor Verzweifelten zu schützen. Wer sich unberechtigt in die Nähe dieser Anlagen wagte, wurde augenblicklich hingerichtet. Die Freigabe der Maisvorräte kam für den König erst dann in Frage, wenn es keinen anderen Ausweg gab. Hielt er sie aber zu lange zurück, käme es zum Aufstand.
    Doch damit nicht genug. Den Berechnungen seiner Astrologen zufolge bewegte sich der Kriegsplanet Chac Ek auf eine Position am Firmament zu, die den Gottkönig schon bald zwingen würde, in die Schlacht zu ziehen.
    Ausgerechnet jetzt soll ich mein Volk ins Verderben schicken! Wollen die Götter unseren Untergang?
    Zornig klappte Ek Balam den prachtvollen Codex zu und legte ihn zur Seite. Seinen finsteren Gedanken nachhängend trat er ans Fenster und blickte in den nächtlichen Himmel. Nebelschwaden versperrten den Blick auf die Gestirne und umhüllten den Mond wie bleiche Laken. Nein, so schnell wollte er seinen Traum, die alte Ordnung wieder herzustellen, nicht aufgeben. Aber er musste rasch handeln.
    Die Nacht war weit fortgeschritten. Niemand ahnte, dass der König in seinen Gemächern das heilige Blutritual vorbereitete. Sobald die Glut der Opferschale entfacht war, öffnete er seinen Mund, zog die Zunge heraus und bohrte den Stachel eines Rochens hinein. Er trieb ihn tiefer und tiefer, bis die Spitze an der Unterseite wieder austrat. Ein Zucken huschte über sein Gesicht. Aber den Göttern sein königliches Blut darzubringen, genügte nicht. Auch sein Schmerz war ein wichtiger Bestandteil der Zeremonie. Ek Balam zog den Stachel wieder heraus, fädelte eine lange mit Dornen besetzte Schnur in die brennende Wunde und zerrte sie hindurch. Das Ausmaß seiner Qualen war kaum zu ertragen. Kalter Schweiß bedeckte seinen Körper. Mit heiligem Papier fing er das Blut auf, das schwer und dunkel aus seiner Zunge rann. Von Schmerz benebelt, warf er es in die Glut, wo es zu Asche verbrannte. Jetzt konnte ein Teil seiner Blutseele mit dem Rauch aufsteigen, um eins mit den Göttern zu werden. Nur, wenn sich das Tor zur Unterwelt öffnete, konnte er auf Erleuchtung hoffen.
    Im Zustand äußerster Erschöpfung beugte sich der König über den aufsteigenden Rauch und sog den Dunst in seine Lungen ein. Noch immer tropfte die rote Flüssigkeit von seinem Kinn, während die Dämpfe tanzend seinen Geist umwoben. Ek Balam sank in Trance und sah, wie die wogenden Schwaden vor seinen Augen Gestalt annahmen. Aus ihnen wand sich die Visionsschlange empor und
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher