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Biografie eines zufälligen Wunders - Roman

Biografie eines zufälligen Wunders - Roman

Titel: Biografie eines zufälligen Wunders - Roman
Autoren: Residenz
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Sonne und ich weine wie ein kleines Kind. Weil mir die Viecher leidgetan haben, verstehst du? Ich hab gedacht, mir zerreißt’s das Herz, das sag ich dir. Und dann ist es passiert! Ein Wunder …«
    »Ein Wunder?«
    »Ein Wunder! Ein richtiges Wunder. Ich weiß bis jetzt nicht, was das war. Du musst mir auch nicht glauben, deine Sache. Ich weiß nicht, vielleicht bin ich schon ganz irr im Schädel. Kann auch sein.«
    »Was ist passiert?«
    »Na ja, ich sitze vor dem Haus, da hör’ ich, wie etwas durch die Luft flattert, wie ein Vogel, aber riesengroß! Ich habe mir die Augen gerieben. Du wirst es mir nicht glauben. Eine Frau war in der Luft. Mein Ehrenwort. Eine Frau. Eine ganz normale, lebendige Frau, so lebendig wie du und ich, nichts Besonderes, aber es war, als würde irgendeine Kraft sie in der Luft halten. Und in den Händen hatte sie das Bisonkalb. Keine Ahnung, wie sie’s geschafft hat, es vor dem Gewehr wegzuschnappen. Und ich sag’s dir, das Kalb war noch ganz klein, aber es hatte trotzdem schon seine zwanzig, dreißig Kilo. Man hat der Frau aber keine Anstrengung angesehen. Sie hat das Kalb vor mir hingelegt und ist selber auch auf den Boden gesunken. Mir hat’s die Sprache verschlagen. Ich dachte, bravo, jetzt bin ich endgültig übergeschnappt. Jetzt kann ich mich gleich in die Zokoliwka einliefern lassen. Und sie sagt zu mir: ›Nehmen Sie das Bisonkalb, ich bitte Sie.‹ Ich bin dann wieder ein bisschen zu mir gekommen und antworte: ›Ja, kann’s nehmen, warum nicht.‹ Sie hat Danke gesagt und ist weggeflogen.«
    Lena schenkte sich ebenfalls Whisky ein. Ihre Hände zitterten und das Herz schlug ihr bis zum Hals.
    »Glaubst du, ich bin wahnsinnig?«, fragte Marussetschko.
    »Nein. Die Frau haben schon viele gesehen.«
    »Auf dem Kopf trug sie ein gelbes Kopftuch, so mit dunkelroten Blumen, glaube ich.«
    »Ich würde sie auch gerne treffen«, sagte Lena verträumt. »Falls sie wirklich existiert, würde das vieles ändern.«
    »Was soll’s, heute können wir’s uns leisten! Mach eine neue Flasche auf.«
    Lena kam erst gegen Morgen nach Hause. Das Letzte, das sie beim Einschlafen sah, war ein endloses Feld. Auf dem Feld weiden riesige behaarte Kühe. Lächelnde Elche mit mächtigen Geweihkronen gehen daneben spazieren. Wölfe heulen an den Ecken in alle vier Himmelsrichtungen. Bären schlecken ihre mit Waldhonig bekleckerten Tatzen ab. Und in den blühenden Kräutern raschelt eine Fasanenfamilie, die sich nicht zu fürchten braucht, weil die Füchse vor Angst schon längst alle räudig geworden sind.

13    Wie sie in die Finsternis blicken musste, um das Licht zu sehen
    Die Zokoliwka ist ein monumentaler Bau mit einem einzigen langen dunklen Gang. Wer die Zokoliwka betritt, findet den Weg nicht mehr zurück. Deshalb sagen die Leute vermutlich auch »Sumpf« dazu. Und man sagt noch: Wenn du lange in die Finsternis der Zokoliwka blickst, blickt die Finsternis auch in dich hinein.
    Lena wurde im Sommer 2006 hierhergebracht. In der Nacht. Zuerst wurde sie in ein Einzelzimmer gesperrt, später kam sie in ein Gemeinschaftszimmer. Dort habe ich sie dann auch kennengelernt.
    Das Erste, was ich mir zu Lena aufgeschrieben habe, war:
    »Dünn. Blass. Raucherin. Wirkt normal, aber hier sind viele normal. Was ist ihr Geheimnis?«
    Erst viel später habe ich begriffen, dass es überhaupt kein Geheimnis gab. Lena verbarg nie etwas und machte einem nichts vor. Sie war genau die, für die man sie hielt.
    Wir haben viel geredet und ich schrieb alle unsere Gespräche genau auf, das ist so eine Angewohnheit von mir. Wenn ich alles aufschreibe, kann ich sicher sein, dass ich nichts vergesse. Die Ärzte halten meine Angewohnheit für eines der Hauptsymptome meiner Krankheit.
    Als Lena hierherkam, weinte sie die ganze Zeit. Sie heulte und wehklagte lauthals, und ihr Weinen fügte sich nahtlos in die hiesige Lärmkulisse ein. Die Leute heulen hier überhaupt oft und gern. Das ist auch das einzig Gute an der Zokoliwka: Man kann hier vieles machen, wofür man sich draußen genieren würde oder was man nie zu tun gewagt hätte. Hier kannst du weinen, soviel du willst. Du kannst dir die Lunge aus dem Leib schreien. Du kannst Grimassen schneiden. Du kannst anderen über das Gesicht streicheln. Es gibt hier eine, die genau das macht. Sie kommt zu dir her und fängt an, dir andauernd übers Gesicht zu streicheln. Man kann also sagen, hier ist alles erlaubt, was draußen verboten ist. Aber es ist auch alles verboten,
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