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Biografie eines zufälligen Wunders - Roman

Biografie eines zufälligen Wunders - Roman

Titel: Biografie eines zufälligen Wunders - Roman
Autoren: Residenz
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zu zweifeln, dass ihre Tochter freiwillig zum Hruschewskyj-Platz mitgekommen war. Iwanka ging einer Trickbetrügerin auf den Leim. Überlegen Sie doch, ist es denn normal, einen Menschen »Hund« zu nennen?
    Zum Abschluss unseres hochgradig anstrengenden mehrstündigen Gesprächs konnten die Mutter der Betroffenen und ich zu einem Kompromiss gelangen. Iwanka wird die erste Invaliditätsstufe auf Lebenszeit zugesprochen, dementsprechend auch sämtliche Vergünstigungen, die für diese Invaliditätsstufe gesetzlich vorgesehen sind. Ihren Rollstuhl konnte sie schon am nächsten Tag in der Abteilung für Sozialfürsorge abholen. Das Amt für Sozialpolitik sagte zu, innerhalb eines Monats einen Telefonanschluss in die von der Behinderten bewohnte Wohnung zu verlegen, und innerhalb der nächsten drei Jahre bekommt die Familie der Behinderten ein Auto, was ebenfalls im Leistungspaket für Bürger, die nicht mobil sind, enthalten ist.
    Als ich Frau Marias Wohnung verließ, drückte sie mir die Hand und bedankte sich herzlich.
    Ich habe den Konflikt geregelt und meine, dass es richtig war. Ich bin da sogar ein bisschen stolz auf mich. Die Gerechtigkeit hat gesiegt, wie es so schön heißt.
    Die Eltern der Betroffenen holten ihre Tochter vom Platz vor der Stadtverwaltung ab und die Demonstration löste sich von allein auf. Die Bürgerin L. leistete übrigens massiven Widerstand. Sie wollte die Eltern daran hindern, das arme Mädchen mit nach Hause zu nehmen. Es blieb keine andere Wahl, als die Polizeibeamten hinzuzuziehen. Wir erinnern uns: Sie ist mit der Behinderten weder verwandt noch verschwägert. Ich bin der Meinung, dass man L. wegen Entführung anklagen hätte müssen – und sollen! Vielleicht hätte man die ganze Misere vermeiden können.
    Ich frage Sie nun, Taras Mykolajowytsch, als Kollegen und als Fachmann: Was habe ich, bitte schön, falsch gemacht?

12    Wie sie auf den letzten Hirten traf
    Die Geschichte neigt sich allmählich ihrem Ende zu.
    Hunds Eltern nahmen ihre Tochter in seliger Vorfreude auf das vom Staat gesponserte Auto mit nach Hause.
    Lena streckte die Waffen und kehrte zum herkömmlichen Lebensmodell zurück, also: Geburt, Erwachsenwerden, Fortpflanzung und Tod.
    Pawlo, der Yogi, plante in den Pausen zwischen seinen Yogaübungen und Meditationen ihre gemeinsame Zukunft mit einem für seine östlichen Glaubensvorstellungen sehr untypischen Eifer.
    Lenas Eltern heirateten einander wieder.
    Lenas Mitbewohnerin aus dem Studentenheim, die Diskuswerferin Wassylyna, verbrachte auch die nächsten Olympischen Spiele auf dem Klo. Als ihr Magen sich nach dem Ende des Wettbewerbs wieder beruhigt hatte, sagte sie: »Ist mir wurscht. Hat halt nicht sollen sein.«
    Der ehemalige Literaturprofessor Teofil Karnickel veröffentlichte im Eigenverlag ein Buch mit dem Titel »Die behaarten Schildkröten aus der Provinz Henan oder Warum es gut ist, an alles zu glauben«. Nachdem er ein halbes Jahr lang auf eine anerkennende und danach wenigstens auf irgendeine Rezension gewartet hatte, versuchte er wieder, sich vor einen fahrenden Zug zu werfen. Der Selbstmordversuch misslang erneut, weil die Zugverbindungen in dieser Nacht wegen einer Überschwemmung gestrichen waren.
    Der Fleischer Mischa verkauft mittlerweile Wurst.
    Die ehemaligen Mitglieder der Organisation »Bewegung des Widerstandes« gründeten eine rechtsradikale Partei mit Darwin an der Spitze und zogen in die Stadtregierung ein. Ihr erstes Projekt bestand in der Umbenennung der Bauarbeiter-Straße in Stepan-Bandera-Straße.
    Lenas Bekannte, die Ärztin Olha Iwaniwna, eröffnete eine Praxis für Paramedizin. Sie spezialisierte sich auf Brustvergrößerungen ohne operative Eingriffe und auf Abnehmkuren vom Typ »Zehn Kilo in zehn Tagen«. Ihr Angebot umfasste auch Behandlungen gegen Cellulite, Trainings zur Stärkung der Willenskraft und zur Steigerung des Selbstbewusstseins sowie Seminare zum Thema Flirten und »Was tun, damit der Mann nicht fremdgeht«.
    Der stadtbekannte Boss mit dem Beinamen Mönch kam bei einer Explosion im Boxclub »Wunderblume« ums Leben. Die Überreste seines Körpers konnten mittels seiner Zahnprothese identifiziert werden, die als Einzige keinen Schaden genommen hatte.
    Angesichts all dieser Ereignisse sagte Lena, es gebe nichts Spannenderes, als den Lauf der Zeit mitzuverfolgen. Den Anfang und die Entwicklung von Geschichten zu erleben, die auf den ersten Blick völlig unwesentlich erscheinen. Zu spüren, wie die Erinnerung
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