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Das rote Band

Das rote Band

Titel: Das rote Band
Autoren: Dana Graham
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1
     
    Coldhill, April
     
    „Es wird nicht klappen, Eloïse.“
    „Aber wir haben keine Wahl!“ Die hochgewachsene junge Frau verschränkte die Arme vor der Brust und sah ihren Bruder Korin streitlustig an. Seit Tagen versuchte er, ihr diese – in seinen Augen unsinnige – Idee auszureden. Doch sie würde sich nicht von ihrem Vorhaben abbringen lassen, denn der Besitz und die Zukunft ihrer Familie standen auf dem Spiel. „Unsere Ernten waren nie üppig“, fuhr Eloïse fort, „aber nach dem verregneten Sommer und den Hagelstürmen im letzten Jahr haben wir fast nichts mehr. Wenn die Erträge nicht bald besser ausfallen, stehen wir vor dem Ruin!“ Auf ihrem ebenmäßig geschnittenen Gesicht erschien ein verzweifelter Ausdruck. „Wir müssen etwas ändern und können nicht mehr länger mit der Entscheidung warten! Mein Besuch der Akademie von Greystone ist unsere einzige Chance, Coldhill zu halten. Lord Tennison, der dort unterrichtet, besitzt großes Wissen auf dem Gebiet des Ackerbaus.“
    „Daran habe ich auch keine Zweifel“, gab der junge Mann zu. Er war von hagerer Statur, und unter seinen hellen Augen lagen tiefe Schatten. „Mir gefällt nur nicht, dass du dich als Mann verkleiden willst.“
    Ungeduldig schüttelte Eloïse den Kopf. „Es gibt keine andere Möglichkeit, denn in der Frauenklasse wird Ackerbau nicht unterrichtet.“ Sanfter fügte sie hinzu: „Und du bist zu schwach, um selbst nach Greystone zu gehen.“ Auch nach zwei Jahren erfüllte es Eloïse immer noch mit Schrecken, wenn sie an Korins schweren Sturz vom Pferd dachte. Er hatte überlebt, aber kurz danach hatte die Fallsucht begonnen, die inzwischen in regelmäßigen Abständen auftrat. Nach einem Anfall war ihr Bruder entkräftet und meist noch tagelang ans Bett gefesselt. Das anstrengende Ausbildungsjahr in der Akademie würde er nicht durchhalten, diese Tatsache war ihnen beiden bewusst.
    „Ich mache mir Sorgen um dich“, erklärte Korin. „Greystone ist kein Abenteuer. Wir planen einen Betrug!“
    „Wir nehmen doch niemandem etwas weg!“, widersprach Eloïse, und ihre grauen Augen blitzten. Warum musste ihr Bruder es immer so kompliziert machen?
    „Nein, aber du gibst vor, jemand zu sein, der du nicht bist.“ Er seufzte. „Du bist viel zu jung und unerfahren für ein solch gewagtes Unterfangen.“
    „Ich bin gerade achtzehn geworden!“, empörte sich Eloïse. „Ich bin kein kleines Kind mehr. Außerdem sind die anderen Studenten dort auch nicht viel älter.“
    Statt einer Antwort griff Korin nach der Spitze ihres langen Zopfes, in den Eloïse ihr dunkelblondes Haar geflochten hatte, und zog daran. „Was ist, wenn sie in Greystone entdecken, dass du eine Frau bist?“
    „Dann werden sie mich vor die Tür setzen, nichts weiter“, entgegnete Eloïse. Das hoffte sie zumindest. „Aber sie werden es nicht merken. Ich höre doch immer, ich sei keine Lady.“ Sie wies mit der Hand an sich herunter. Mit ihrem hohen Wuchs überragte sie selbst einige Männer und stach neben anderen Frauen stets heraus. Zudem wies ihr schlanker Körper keine nennenswerten Rundungen auf, und somit entsprach sie auch in dieser Hinsicht nicht den gängigen Schönheitsvorstellungen. Und ihre Angewohnheit, mit ihrer Meinung nicht zurückhaltend zu sein, trug ebenfalls dazu bei, dass sie selten Komplimente für Eleganz oder Liebreiz erhielt. Vielmehr hatte sie von den Gouvernanten oft genug Tadel für undamenhaftes Verhalten bekommen. Aber dies alles war nun von Vorteil, das musste Korin doch einsehen!
    Und tatsächlich nickte ihr Bruder. „Also gut, einen Versuch ist es wert. Denn, dass es um Coldhill schlecht bestellt ist, kann ich nicht leugnen.“
    Dankbar sah Eloïse ihn an. „Es wird alles gut gehen, ich verspreche es dir. Außerdem habe ich noch vier Monate Zeit, um mich in meine Rolle als Mann einzufinden.“
    „Wie willst du dich eigentlich nennen?“, fragte er neugierig.
    „Ist doch klar: Korin!“, erwiderte sie triumphierend. „Schließlich brauche ich zur Anmeldung in der Akademie deine Schulzeugnisse.“
    Er stöhnte. „Das ist nicht dein Ernst, Eloïse!“
    „Korin! Nenn mich ab sofort Korin!“ Entschlossen stemmte sie die Hände in die Hüften. „Schließlich muss ich mich daran gewöhnen, auf deinen Namen zu hören.“
    Ihr Bruder verzog in gespielter Verzweiflung das Gesicht, und Eloïse konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen. Diese Schlacht war geschlagen! Nun musste sie an die notwendigen Vorbereitungen gehen,
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