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Die Stadt - Roman

Titel: Die Stadt - Roman
Autoren: Andreas Brandhorst
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1
    Es geschah an seinem vierzigsten Geburtstag. Dieser Tag hätte der Anfang eines neuen Lebens für Benjamin Harthman sein sollen; stattdessen brachte er den Tod.
    Benjamin wusste nicht, was geschehen war. Graue Wolken zogen über den Himmel und warfen kalte Schatten auf Leib und Seele. Stimmen erklangen um ihn herum, undeutlich, wie aus einer anderen Welt. Manchmal verstand er das eine oder andere Wort, der Rest war bedeutungsloses Brummen.
    Oben schaute die Sonne durch eine Lücke zwischen den grauen Wolken. Benjamin versuchte zu blinzeln, aber es gelang ihm nicht. Das Licht blendete, brachte jedoch keine Wärme. Die Kälte blieb, breitete sich in ihm aus, kroch in jeden Winkel seines Körpers.
    »Die Beine«, sagte jemand. »Seht euch seine Beine an!«
    »Er verblutet!«
    »Der Frau ist nicht mehr zu helfen …«
    Etwas krachte, aber nicht jetzt – das Krachen kam aus seiner Erinnerung, und es vermischte sich mit anderen Geräuschen, mit einem perlenden Lachen und dem Raunen des Winds in hohen Baumwipfeln. Mir ist kalt, dachte Benjamin. Und ich habe Durst. Warum gibt mir niemand zu trinken?

    »Treten Sie zurück«, ertönte es streng und laut. »Machen Sie Platz für den Notarzt.«
    Tick, tack, flüstert die Uhr des Lebens, unentwegt, erbarmungslos, dachte Benjamin und fragte sich gleichzeitig, warum er dies dachte. Er hatte es irgendwo gelesen, in einem der vielen Bücher, die ihn über all die Jahre hinweg begleitet hatten. Und er dachte: Meine bleibt jetzt stehen.
    Da war sie, die Erkenntnis: Ich sterbe. Er hatte oft über diesen Moment gegrübelt und sich gefragt, wie sie sein würden, die einsamsten Sekunden, die man erleben konnte. Er hatte sich nicht vorgestellt, dass sie von fröhlicher Musik untermalt sein würden.
    Die Melodien kamen aus einem Autoradio, wusste er, und er begriff mit schmerzlicher Klarheit: Die Welt ist ebenso gleichgültig wie die Uhr des Lebens. Sie schert sich einen Dreck um meinen Tod.
    Das blendende Licht verschwand, als sich Wolken vor die Sonne schoben. Schatten krochen heran und tilgten die Farben aus einer Welt, die zurückzuweichen begann.
    Ein Regentropfen klatschte Benjamin auf die Stirn, nass und schwer, und das Pochen hallte ihm wie ein Trommelschlag durch den Schädel. Er versuchte den Kopf zu heben, aber er war viel zu schwer. Hände berührten ihn, doch was auch immer sie mit ihm anstellten, es spielte keine Rolle mehr.
    Der Frau ist nicht mehr zu helfen, hatte jemand gesagt.
    Kattrin, dachte er und hörte erneut ihr Lachen, glockenhell, während es oben in den Baumwipfeln rauschte und das Blätterdach tanzende Muster aus Licht und Schatten schuf. Es tut mir leid, Kattrin.

    Weitere Regentropfen fielen, aber er fühlte sie nicht mehr. Gesichter erschienen über ihm, in einem sich immer mehr verengenden Blickfeld. Fremde Augen sahen auf ihn herab, namenlose Lippen bewegten sich und formulierten Worte ohne Inhalt.
    Hast du gehört, Kattrin?, fragte Benjamin. Es tut mir leid.
    Und dann fiel er.
    Eine Welt der Schemen und Schatten nahm ihn auf. Ganz dunkel war sie nicht – in der Ferne vertrieb Licht einen Teil der Düsternis, und Benjamin fühlte sich davon angezogen. Es stimmt also, staunte er. Das Licht, das die Sterbenden sehen, es existiert tatsächlich.
    Doch dann begann er zu zweifeln, denn das Licht stammte von der Flamme einer kleinen Laterne und spiegelte sich in zwei grünbraunen Augen wider. Es waren die Augen einer Frau.
    »Kattrin?«, krächzte Benjamin.
    »Nein«, lautete die Antwort. »Ich bin Louise. Willkommen im Jenseits.«

2
    Der Brechreiz war so stark, dass Benjamin minutenlang würgte und zu ersticken fürchtete, was ihm seltsam erschien: Konnte man sich nach dem Tod vor dem Sterben fürchten? Kopfschmerzen hämmerten zwischen seinen Schläfen, viel lauter als der Trommelschlag des einen Regentropfens, der
ihm in den letzten Sekunden seines Lebens auf die Stirn gefallen war.
    »Es ist schlimm, ich weiß«, erklang erneut die Frauenstimme. »Bist du das erste Mal gestorben?«
    »Das … erste Mal?« Benjamin würgte erneut, aber inzwischen war sein Magen praktisch leer. Er spuckte Galle und versuchte mehr zu erkennen als nur die vagen Umrisse eines Gesichts.
    »Beim ersten Mal ist es am schlimmsten«, sagte die Frau. »Glaub mir, ich weiß Bescheid. Der Tod ist eine unangenehme Sache.«
    Ich halluziniere, dachte Benjamin. Aber um zu halluzinieren, brauchte man ein lebendes, funktionsfähiges Gehirn.
    »Vielleicht ist es der Schock«, sagte die Frau.
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