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Manhattan

Manhattan

Titel: Manhattan
Autoren: Don Winslow
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PROLOG: DEAR OLD STOCKHOLM
    Freitag, 21. März 1958
    Walter Withers war bei der CIA nicht unglücklich. Ihm fehlte einfach nur New York.
    Oder, wie er zu Morrison, seinem künftigen Exkollegen bei Scandamerican Import/Export, sagte: »Nicht, weil ich die Firma weniger liebe, sondern weil ich Manhattan mehr liebe.«
    Walter glaubte nicht eine Sekunde, dass Morrison die Anspielung auf Shakespeare verstehen oder den Aphorismus goutieren würde, doch das Vergnügen an einem wohlformulierten Satz liegt letztlich nicht beim Hörer, sondern beim Sprecher.
    Aber Walter wusste aus ihrer dreijährigen Zusammenarbeit, dass Morrison für Vergnügen nicht wirklich zu haben war. Die Erdanziehungskraft schien sein ohnehin schon langes Gesicht jede Woche noch ein wenig länger werden zu lassen. Morrison, dachte Walter, hatte die Dunkelheit des schwedischen Winters verinnerlicht und zu einem Teil seiner Seele gemacht. Zwar war Morrison mit dem gleichen Eifer hinter den langbeinigen skandinavischen Frauen her wie alle anderen, doch seinen Bemühungen haftete ein grundsätzlicher Pessimismus an.
    Dabei gelang es Morrison durchaus, Frauen ins Bett zu locken. Die Laken hatten sogar kaum Zeit abzukühlen. Nein, das Problem lag ganz woanders: Selbst wenn er seine Begleite
rin schon auf der Treppe zu seiner Bude im zweiten Stock hatte, unter dem durchsichtigen Vorwand, ihr seine Sammlung amerikanischer Jazzplatten vorzuspielen, machte sich Morrison schon Sorgen. In seiner Phantasie fuhr die junge Frau schon vor Tagesanbruch in einem Taxi weg oder saß im Wartezimmer ihres Gynäkologen oder – das schauerlichste aller seiner Wahngebilde – enthüllte ihrem sowjetischen Führungsoffizier seine sexuelle Technik. Morrison stellte sich dabei einen schmierigen, krötenhaften dicken Mann vor, der eine billige, stinkende sowjetische Zigarette nach der anderen rauchte, während er sich mit einem schiefen Grinsen die Erzählungen von Morrisons Tölpelhaftigkeit im Bett anhörte.
    Diese letzte Phantasie war so etwas wie eine sich selbst erfüllende Prophezeiung geworden.
    »Immer noch besser, als beim Baseball die Punkte zu zählen«, hatte Walter bemerkt, als Morrison ihm eines Abends in betrunkenem Zustand sein Dilemma gestand.
    »Was meinst du damit?«
    »Also«, begann Walter und suchte nach Worten, »manche Männer – das habe ich jedenfalls mal gehört – denken an Baseball, wenn sie versuchen, das … Unvermeidliche hinauszuzögern. Deine … Bremse … ist ein imaginärer KGB -Operateur, das ist alles.«
    »Das ist alles?«, krächzte Morrison. Er legte den Kopf auf den Tisch, schloss die Augen und stöhnte leise. »Außerdem ist es keine Bremse. Es lässt mir total die Luft raus.«
    »Wenn das so ist«, sagte Walter, »machst du dir einfach zu viele Gedanken.«
    Morrison schlug ein Auge auf, richtete es auf Walter und sagte anklagend: »Es liegt an dem, was wir ihnen antun, nicht wahr?«
    Walter erkannte dies als rein rhetorische Frage. Er war im
Dunstkreis der Gemeinde der Geheimdienstleute Nordeuropas tatsächlich dafür berühmt, es ihnen anzutun. Manchmal hatte es den Anschein, als hätte Walter »Der Hurendompteur« Withers für so gut wie jeden osteuropäischen Konsulatsbeamten schöne Bettgefährtinnen besorgt, für jeden halbherzigen Mitläufer und hartgesottenen sowjetischen Spion in Skandinavien. Walter führte einen Rennstall ernster Schwedinnen, einfallsreicher Däninnen und hingebungsvoller Norwegerinnen, die ihre Liebhaber aus den Warschauer-Pakt-Staaten mit olympischer Sex-Gymnastik verwöhnten – zum Vergnügen, für Geld und für Walters Mikrophone.
    In dem wundervoll freizügigen Schweden von 1958 besaß Walter Withers eine erotische Bibliothek, die Alfred Kinsey vor Neid hätte smaragdgrün werden lassen. Walter war zu sehr Gentleman, um den Schmeicheleien, dem Drängen und den Bestechungsangeboten seiner Kollegen zu erliegen, die sich für einen pikanten Abend in den eigenen vier Wänden einmal ein Tonband ausleihen wollten. Er lehnte es auch ab, eine Freundin auf ein schnelles, schmutziges Hörspiel ins Büro zu schmuggeln, und wollte es nicht einmal zulassen, dass sich im Hinterzimmer ein paar Jungs mit seiner Tonbandsammlung statt einer Stripperin vergnügten. Und Walter selbst hatte viel zu viele von diesen verdammten Bändern gehört, um sie auch nur andeutungsweise erotisch zu finden.
    Nein, für Walter war das alles ein Geschäft, wenn auch ein schmutziges, und er brachte es nicht übers Herz, seinen
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