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Manhattan

Manhattan

Titel: Manhattan
Autoren: Don Winslow
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ihm nicht widerstehen. Dazu hatten sie nie eine Chance – oder etwa doch? –, diese armen Bastarde mit ihren winzigen Wohnungen im Hochparterre, die sie mit Mami teilten, diese Typen, die zu Hause zwei Stunden anstehen mussten, um ein Stück minderwertiges Fleisch zu kaufen, diese Frauen, deren sozialistisches Arbeiterparadies es nie schaffte, sie auch nur mit einem Hauch der neuesten Kosmetik zu versorgen, die Walter so unnachahmlich schüchtern aus der Tasche ziehen und anbieten konnte, als wäre es eine Kleinigkeit, die er in der chemischen Reinigung als Zugabe erhalten hatte.
    Und er gab ihnen nie das Gefühl, minderwertig zu sein, o nein, so etwas tat Walter nie. Statt dessen gab er ihnen das Gefühl, als wären sie alle gleichberechtigte Mitspieler in dem großen Spiel des Wohlstands, und natürlich war es nur ein kleiner Schritt von diesem Spiel bis zum nächsten, wenn Walter sie an die Jungs mit den nie lächelnden Gesichtern weiterreichte, die etwas über Getreideproduktion erfahren wollten oder Etatzahlen oder neugierig darauf waren, wer bei den großen Konferenzen neben wem saß.
    Solche Fragen stellte Walter seinen Zielpersonen nie. Er
schmeichelte ihnen, verführte, verwöhnte sie, hörte sich ihre Probleme an, lud sie zum Essen und zum Trinken ein, verschaffte ihnen Betten und Bettgefährtinnen, lieh ihnen Bargeld und hielt ihnen die Hände. Er mochte seine Zielpersonen wirklich, obwohl diese Zuneigung ihn nicht davon abhielt, sich mal mit einem, der zu pampig wurde, hinzusetzen und etwas zu sagen wie: »Jetzt hören Sie mal zu, mein Guter, entweder Sie stellen sich jetzt wieder ins Glied, oder unsere Jungs mit den steinernen Gesichtern lassen mal ein Wort bei euren fallen, und dann …« Dann verstummte Walter und überließ es der Zielperson, sich vorzustellen, wie sie vor der Betonwand irgendeines Behördenkellers auf die Kugel in den Hinterkopf wartete.
    Doch dann zündete Walter eine Zigarette an und steckte sie der Zielperson in die zitternde Hand oder füllte den Drink auf und dachte an die anstehende Abendunterhaltung. In dieser Zeit suchte sich Walter einen günstigen Moment aus, um der Zielperson seelenvoll in die Augen zu sehen und zu fragen: »Vertrauen Sie mir?«, worauf die Antwort unfehlbar »ja« lautete, und dann waren sie wieder Freunde.
    Walter war mit jedermann gut befreundet. Frauen liebten ihn, weil er sie in elegante Lokale führte, sie zu gutem Essen einlud, ihnen zuhörte und nie den Versuch machte, sie ins Bett zu bekommen, bevor sie ihm klar und deutlich zu verstehen gegeben hätten, dass er es sollte. In diesen Fällen ging er vor dem Frühstück, vergaß nie, ein Briefchen und Blumen zu schicken, und deutete später nie durch ein Wort, einen Blick oder eine Geste an, dass er sie auch nur vor der Haustür geküsst hätte. Männer mochten ihn, weil er ein ganzer Kerl war. Er konnte über Politik sprechen, über Sport und Literatur, spielte anständig Tennis, pokerte um hohe Einsätze und zahlte immer seinen Anteil an den Rechnungen.
    Die meisten Geheimdienstleute in dem nordeuropäischen Agentengeschäft mochten Walter, sogar die Briten, die sonst niemanden mochten, nicht einmal – und das ganz besonders – einander. Die einzigen Figuren, die Walters Charme nicht erlagen, waren die braven Leute vom schwedischen Innenministerium, die, immer auf der Hut vor dem benachbarten sowjetischen Bären, der Meinung waren, Walter Withers sei in seinem Job vielleicht ein wenig zu gut. Tatsächlich standen sie kurz davor, ihn auszuweisen, als er urplötzlich seine starke Sehnsucht nach New York entwickelte.
    In den Fluren erzählte man sich, der Alte höchstpersönlich habe Walter gefragt, was für einen neuen Posten er jetzt gern hätte, da die Schweden ihn hinauswerfen wollten. Ein Gerücht besagte, sie hätten in den Tiefen des Hamburger Ratskellers gesessen, den der Alte bei seinen seltenen Besuchen in der Alten Welt bevorzugte, und es persönlich besprochen. Dies war eine große Ehre, denn der stellvertretende Direktor verließ sein Büro nur selten, um mit einem normalen Agenten zu sprechen.
    Darüber, woher der stellvertretende Direktor seinen Spitznamen hatte, gab es unter den rangniederen Männern der Firma etliche Theorien. Am glaubwürdigsten klang die, dass er von seinem jahrelangen Herumsitzen in seinem fensterlosen Büro herrühre, wo er bei seiner zwanghaften Suche nach angeblichen sowjetischen Maulwürfen über den Akten brüte.
    Walter Withers hatte stolz
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