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Bel Canto (German Edition)

Bel Canto (German Edition)

Titel: Bel Canto (German Edition)
Autoren: Milada Součková
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ERSTES KAPITEL
    Stellen wir uns den Raum, den ich vor dir, Leser, öffne, als eine ruhige Wasserfläche vor, die an Ereignissen gemessen wird, die sie kaum kräuseln; unscheinbare Vorgänge senden stille Kreise aus, aber auch an ihnen können wir Tiefe und Stärke der Zeit messen. Schwillt die ganze Oberfläche durch sogenannte große Ereignisse, historische Ereignisse, wenn du willst, an, wie sollten wir dann den Sturm beherrschen, wenn wir nicht fähig sind, in der Windstille zu segeln?
    Deshalb führe ich dich in die Stille, deren Duft uns die Poesie schildert, und der Prosa überlassen wir die üblen Gerüche: den warmen Duft panierter Schnitzel aus der Küche, aus dem Stiegenhaus den Gestank von Gemüseabfällen mit einer Spur von altem Tennisball und Billard, vom Ausschank Geruch übergelaufenen Bieres und penetranter Gestank aus dem Klosett. Alle diese Wohlgerüche vermischen sich mit Tabakschwaden, Wortfetzen, dem auf- und abschwellenden Geklapper von Messern und Gabeln und Tellern.
    Frau Wohlrab, Besitzerin des Kurhotels, sollte doch wissen, dass Doktor Arnošt einer wohlhabenden Familie entstammt, zwar nur Doktor der Philosophie ist, aber eine bessere Partie als Frau Klecands Sohn, Doktor der Rechte. Worauf ist Frau Klecand noch heute stolz? Dass ihr Vater Mitglied des Herrenhauses * war? Man erzählt, Frau Wohlrabs Söhne seien jeder aus einer anderen Ehe, oder nein,jeder von einem anderen Mann. Wer soll sich da auskennen: Frau Wohlrab war nämlich zweimal verheiratet, ihr erster Mann war Staatsbeamter und lebte noch, als sie Doktor Wohlrab kennenlernte. Man sagt, ihr zweiter Sohn sei schon ein Wohlrab, andere behaupten, sie hätte ihn von einem Offizier und erst der dritte Sohn sei ein Wohlrab. Niemand war Zeuge, niemand weiß, wie es wirklich war. Frau Wohlrab kümmert es nicht, wie man darüber denkt. Ihr jetziger Mann, Doktor Wohlrab, ließ sich pensionieren, kaufte das hiesige Kurhotel, und nahm seinen Wohnsitz endgültig in Böhmen. Was liegt Frau Wohlrab daran, wenn sich die Leute streiten, ob ihr zweiter Sohn ein Wohlrab ist oder nicht! Alle drei sind ihr ähnlich und schöne Burschen. Dass der dritte ein Wohlrab ist, bezweifelt niemand; die Damen sagen, er kränkele und sei schwachsinnig. Warum? Weil Doktor Wohlrab trinke. Er trinkt nicht mehr als andere!
    »Er trinkt Absinth!«
    »Doch nicht Absinth! Äther inhaliert er!«
    Aber alle Damen lassen sich gern von Doktor Wohlrab untersuchen, haben ein wenig Angst, er könnte sie mit Äther betäuben und sie würden dann nicht wissen, was ihnen geschieht. Sein Haupt duftet so wunderbar, wenn er es an ihren Rücken legt oder fest an den Busen presst. Freilich, es duftet ein wenig wie Äther, aber dafür ist er doch Arzt; er duftet auch nach starkem Tabak.
    Doktor Wohlrab trinke nicht, und schnüffele auch keinen Äther, so ein Unsinn, lacht Doktor Arnošt: das erzählen sich die Damen im Kurhotel. Doktor Wohlrab trinke und rauche wie jedermann, nur trinke er gern schwarzen türkischen Kaffee und rauche Wasserpfeife, das habe er dort im Süden gelernt. Als ehemaliger Militärarzt, ich bitte Sie!
    Er malt auch gern: im Sprechzimmer und im Wartezimmer hängen die Wände voller Bilder, die er gemalt hat: Minarette, Landschaften, Früchte, das Bild einer Türkin mit halbentblößten Brüsten. Vielleicht doch?, denken die Damen, wenn sie im Sprechzimmer Doktor Wohlrabs sitzen.
    Draußen wiegen sich leise die Baumwipfel und die Damen im Wartezimmer schauen abwechselnd auf die Bewegung der Blätter vor dem Fenster und auf einen zehnseitigen Prospekt des kleinen, Doktor Wohlrab gehörenden Kurhotels: abgebildet ist eine hölzerne Kolonnade, dunkel und verwaist nicht nur auf der Fotografie, sondern weil sie im Schatten hoher alter Bäume liegt, deren Kronen bis an das Fenster des Wartezimmers reichen. Die Kolonnade ist am Ende des Wegs so zugewachsen, dass sie wegen der Feuchtigkeit und Kühle niemand betritt. Das Geländer modert und an heißen Tagen tröpfelt in der Mitte des staubbedeckten Sandsteinstrichs, auf steinernem Sockel, eine kleine kraftlose Quelle, an Regentagen rauscht es unter der Rotunde aus der ständig offene Wasserleitung. Was sagt der Bäderprospekt dazu?
    Da ist das Kurhotel, fotografiert im Frühjahr, wenn die Bäume noch kahl sind. Jetzt in der Saison sieht das einstöckige Gebäude, errichtet von einem unbekannten Unternehmer, der hier Mitte des 19. Jahrhunderts eine eisenhaltige Quelle entdeckt hatte, anders aus. Vor dem Gebäude stehen
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