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Manhattan

Manhattan

Titel: Manhattan
Autoren: Don Winslow
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so hübsch, Michael … das Dunkelgrün der Nadeln vor dem Hintergrund von Mr. Rockefellers grauen Gebäuden … die funkelnden Lichter … all dieser Baumschmuck … aus irgendwelchen verborgenen Lautsprechern kam Weihnachtsmusik, und die Leute von der Heilsarmee läuteten mit ihren Glocken, und wenn wir lange genug in der Menge gestanden und den Baum angestarrt hatten, gingen wir zur Fifth Avenue, um mit unseren Weihnachtseinkäufen zu beginnen. An eins erinnere ich mich besonders gut, um die Frage zu beantworten, die du vorhin gestellt hast: Schon damals glaubte ich, dass die schönsten Frauen der Welt dort herumspazierten. Schon als Junge bewunderte ich ihren Stil, ihren Sinn für Mode, ihr Selbstbewusstsein, ihre Anmut, und starrte sie einfach nur ehrfürchtig an. Ich habe allen Grund zu der Annahme, Michael, dass sie immer noch da sind.«
    »Und jetzt, wo du ein großer Junge bist, möchtest du wieder
hin, um deine schmutzigen Kindheitsphantasien zu verwirklichen?«, fragte Morrison.
    »Es passte alles zusammen, musst du wissen«, erwiderte Walter. »Die Grand Central Station, das Rockefeller Center, der Weihnachtsbaum, die Fifth Avenue, und, ja, ich nehme an, auch die schönen Frauen.«
    »Na dann viel Glück, Walter«, sagte Morrison und stand auf, um Walter die Hand zu schütteln.
    »Dir auch, Michael«, erwiderte Walter.
     
    Eine Stunde später stieg Walter auf Skeppsholmen, einer der drei Inseln in der Stadtmitte Stockholms, aus einem Bus, ging am Wasser entlang zu einem alten zweistöckigen Haus, ging die Treppe zum zweiten Stock hinauf und klopfte an die Tür.
    Anne Blanchard machte ihm auf, lächelte breit und küsste ihn auf den Mund. Dann wischte sie ihm den Schnee vom Kragen seines schwarzen Wollmantels, nahm ihn bei der Hand und führte ihn in die Wohnung.
    »Liebling, du musst ja ganz durchgefroren sein«, sagte sie. »Bist du zu Fuß gegangen?«
    Er schüttelte den Kopf. »Ich nahm den Bus von Centralen, bin aber dann am Wasser entlanggegangen. Ein Abschiedsspaziergang.«
    »Ich mache uns Tee« sagte sie. »Es sei denn, du möchtest lieber Kaffee. Ich glaube, ich habe noch etwas.«
    »Wenn du die Absicht hast, mich aufzuwärmen«, meinte Walter, »wäre mir noch ein Kuss lieber.«
    Sie schmiegte sich ihm in die Arme und küsste ihn lange. Dann machte sie sich frei und setzte den Kessel auf den Herd. Walter zog sich Hut und Mantel aus, hängte sie am Kleiderständer auf, setzte sich auf das kleine Sofa und sah ihr zu.
    Anne Blanchard war eine kleine Frau, einen Meter fünfundfünfzig in Strümpfen, und die Kolumnisten, die über Nachtclubs schrieben, nannten sie meist »zierlich«, was ihr gefiel, oder »elfenhaft«, was sie ärgerte. Ihr blondes Haar war kurzgeschnitten und gewellt. Ihre Augen waren grau – die Farbe des Atlantiks kurz vor einem Sturm, wie Walter einmal bemerkt hatte.
    An diesem späten Nachmittag im März war sie ganz in Schwarz gekleidet – sie trug eine schwarze Bluse über einem langen schwarzen Rock und schwarze Ballett-Slipper. Sie hatte sich ihre übergroße Schildpattbrille aufgesetzt, ohne die sie so gut wie blind war, und ihr Markenzeichen aufgelegt, blutroten Lippenstift.
    Walter liebte sie bis zum Wahnsinn.
    Er merkte der Wärme der Küsse und dem Abdruck auf dem Kissen an, dass sie auf dem Sofa gelegen und gelesen hatte. Ein Buch von Sean McGuire, The Highway By Night , lag aufgeschlagen neben der Tischlampe auf dem Beistelltisch. Die Wohnung war ein Einzimmerapartment, was Immobilienmakler erst seit kurzem »Studio« nannten. Die wenigen Möbelstücke waren aus gebleichter Kiefer mit billigen Bezügen. Der Fußboden bestand aus breiten Dielen, die auf Hochglanz gebohnert waren. Ein billiger, rechteckiger Teppich verlieh ihm etwas Wärme.
    An der Wand reichte ein Bücherregal vom Fußboden bis zur Decke. In den Regalen standen übergroße Fotobücher, afrikanische Skulpturen, Dutzende von Taschenbüchern und eine teure Stereoanlage, zu der ein Plattenspieler und ein Tonbandgerät gehörten. Vor der Bücherwand stand ein Klavier – Anne konnte ohne Klavier nicht sein.
    Ein großes Aussichtsfenster füllte den größten Teil der gegenüberliegenden Wand aus. Draußen nahm der Himmel über
dem schwarzen Wasser des Mälarsees allmählich zarte Pastellfarben an. Der Schnee, der auf die gepflasterte Straße fiel, zeichnete sich glitzernd im Licht der Straßenlaternen ab.
    Anne hatte die Wohnung von einem jungen schwedischen Pianisten gemietet, der gerade eine
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