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Bevor Alles Verschwindet

Bevor Alles Verschwindet

Titel: Bevor Alles Verschwindet
Autoren: Annika Scheffel
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wilde Pferde, die einem tosenden Fluss entsteigen. Sie lässt den Blick wandern, rechts von ihr steht ein dunkelblauer Mann, links von ihr steht ein dunkelblauer Mann, auf beiden Brustkörben das Emblem. Mona kann sich nicht konzentrieren, weil sie die beiden uniformierten Männer, die sie flankieren wie Leibwächter, recht ansehnlich findet in all ihrer Verschwommenheit. Ein derartiges Bild wird sich so bald nicht wieder bieten, und Mona möchte es genießen, Möhren hin oder her, in der Hoffnung auf jemanden, der vorbeikommt und ein Foto macht, darauf zu bewundern: Mona, nahezu blind, aber für die Ewigkeit dunkelblau flankiert.
    »Geht es Ihnen wirklich gut?«, fragt einer der Männer, und Mona lächelt kurz. Vor mehr als zwanzig Jahren hat sie sich eine Dauerwelle machen lassen und wahrscheinlich hat sie noch heute das allerschönste Lächeln. Monas Augen glänzen durch das Grau dieses Tages hindurch. Das Brillenglas, von dem sonst alle Blicke abprallen, ist verschwunden, und Nummer 1 sieht Mona ganz scharf und die sieht ihn schemenhaft, aber gut genug:
    »Ja, nein, alles in Ordnung.«
    Sie wird sich den Geeigneteren von beiden aussuchen, diese Entscheidung trifft Mona schnell, aus dem Bauch heraus, in dem immer noch ihre Mutter hockt. Nach ihrem Tod ist Monas Mutter zu chronischen Bauchschmerzen geworden, hat sich in die Unendlichkeit eines schlechten Gewissens gegraben. In Wahrheit liegt sie nicht auf dem Friedhof, unter der
Thujenhecke, nein, sie lebt weiterhin zusammen mit Mona im Haus mit der Nummer dreizehn, mischt sich ein in absolut alles und besteht auf Schinkenwürstchen im Eintopf, die Mona hinunterwürgen muss. Monas Mutter trinkt Tee und liebt Blätterteiggebäck mit Hagelzucker. Mona wird schlecht davon, trotzdem isst sie die Reste, nichts soll verkommen, und ihre Mutter schafft nicht mehr viel, seit sie nur noch in Mona residiert.
    Jetzt, nach fast fünfzig Jahren Wartezeit, also die Männer, die Liebe, das Leben. Mona wählt aus. Äußerlich sind sich die beiden recht ähnlich, aber das macht nichts. Monas Mutter hat ihr nicht viel gegeben, aber immerhin den einen oder anderen wertvollen Tipp, vor allem, was die Auswahl des Richtigen angeht, des sagenumwobenen Einen. Wichtig sei zunächst die Fähigkeit, ein Rad zu reparieren, und in Monas erbsenumrankten Hinterhof stehen gleich drei davon. Die wirken aufgepumpt sicher viel weniger traurig. Außerdem soll sie auf saubere Fingernägel achten und in einer intimeren Situation auf die Leidenschaft. Der eine Mann hat sehr schöne Hände, er hält ihren Arm, als wäre der lose, er drückt ihn ein wenig zu fest, aber auch das ist genauso sehr gut. Das mit den Händen, das ist wichtig, auch für Mona, nicht nur für die Mutter.
    Nummer 1 zu Monas Rechten räuspert sich und sieht sie fest an, er sieht durch Monas Hornhautverkrümmung hindurch, das sieht sogar Mona. Wann hat sie das letzte Mal jemand so angeschaut? Blicke auf Mona erinnern für gewöhnlich an Leuchtfeuerlicht, einmal gestreift wird sie, und dann wird die Botschaft weitergetragen, niemand betrachtet Mona ausgiebig. Aber dieser Mann sieht sie fest an und Mona fokussiert seine rahmspinatgrünen Augen, und Mona freut sich auf die Liebe, sie fragt sich nicht, warum gerade Rahmspinatgrün sie so entzückt.
    »Wo finden wir den Bürgermeister?«, fragt der Mann, und
Mona versagt die Stimme genau jetzt, sie weiß nicht mehr, wo man ihn findet, den Bürgermeister, Herrn Martin Wacholder, für die Ortsbewohner kurz Wacho. Dabei findet man den direkt in ihrer Nachbarschaft, in der Zwölf, ihn und seinen stillen Sohn David, beide Häuser wie fast alle hier aus Fachwerk, restauriert ist aber nur Wachos. »Ist ja auch das Rathaus, das ist repräsentativ und für alle«, hat Wacho damals beim Gerüstabbau gesagt und dabei stolz auf das glänzende Holz geklopft. Daran erinnert sich Mona beim Blick in die Augen, die sie wiederum an das eigene Haus denken lassen und dann an den Bürgermeister und schließlich an die Frage des Mannes: »Am Hauptplatz, zwanzig Meter die Straße hinunter.« So lauten die meisten Wegbeschreibungen, nur die Meter variieren. Was wichtig ist, findet man am Hauptplatz, alles andere muss man jenseits des Ortes suchen.
    »Was wollen Sie denn?«, fragt Mona.
    »Es geht um die Flutung.«
    »Welche Flutung? Hat Wacho –« Mona hält inne. Sie wollte fragen, ob Wacho wieder auffällig geworden sei. Manchmal, das wissen hier alle, denn hier wissen alle alles, manchmal bekommt der
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