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Bevor Alles Verschwindet

Bevor Alles Verschwindet

Titel: Bevor Alles Verschwindet
Autoren: Annika Scheffel
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den beiden.
    Auch David sieht Mona rennen, ein seltener Anblick. David selbst steht wie immer, die Hände so tief wie möglich in den Jackentaschen vergraben, er steht am Brunnen vor dem Tore und versucht, sich zusammenzureißen. Es wird schon alles in Ordnung sein mit Mona, manchmal muss man einfach rennen, nur nicht zu weit. David will sich nicht anstecken lassen von ihr, er schaut auf den Boden, sein Kopf ist versunken zwischen den Schultern, und in Gedanken versteckt er ein verbotenes Wohin. Aus dem Tore beobachten sie ihn, aber das bemerkt er kaum noch, er ist es gewohnt, und sie sorgen sich sozusagen, sie sprechen darüber, dass er eines Tages abhauen wird, wie seine Mutter, und dass auch er diesen Blick hat und dass Wacho dann völlig den Verstand verlieren wird. Dabei hat David nicht vor wegzugehen, er stellt sich nur gern andere Welten vor und fremde Leben und Menschen, einen ganz besonders, nur bei ihm möchte er sein und am besten ganz nah. Wacho und David balancieren in einer wackligen Angelegenheit von Aushalten und Verzweifeln.
    David kann nicht länger widerstehen, er holt die Hand aus der Tasche, kaut sich das Nagelbett blutig, er sucht nach Ideen für die Zukunft, was für ein großes Wort und wie unpassend
an diesem Tag wie auch an jedem andern. Morgen hat er Geburtstag, er wohnt bei seinem Vater im Rathaus, sein Geld verdient er im Tore, steht schichtweise und hemdsärmelig hinter dem Tresen, gibt Bier aus und Punsch und Schnaps. Er kann sieben Teller gleichzeitig tragen, ohne dass seine Arme zittern, und er spricht nicht viel bei der Arbeit. Er ist stark und trotzig und entschlossen und mutig und er hat Angst bis zum Himmel und darüber hinaus und er weiß nicht wovor.
    Ein schwarzer Wagen mit einem merkwürdigen Emblem parkt beim Rathaus, mit einem Kennzeichen, das David nicht kennt. Zwei Männer, dunkel gekleidet, stehen vor dem Löwen, und er weiß sofort, dass der Tag da ist. Der Tag, an dem alles aus dem Gleichgewicht gerät, an dem die Welt umkippt. David beißt sich möglichst diskret einen Fetzen Haut vom Zeigefinger. »Hallo«, sagt eine Stimme hinter ihm. David hört oft Stimmen, das muss nichts bedeuten, aber diese hier klingt besonders freundlich und deshalb dreht David sich um. Da steht er, und David macht einen Schritt vor und einen zurück und schaut nur noch auf die fremde Hand, die seine Hand nimmt, und auf den Daumen, der über das müde Nagelbett streicht. David könnte brüllen vor Erleichterung. Da ist er also, endlich, blass und fast durchscheinend und das krasse Gegenteil von ihm selbst, der mit all seiner Kraft und Gegenwärtigkeit nicht weiß wohin, der den Kopf schüttelt über sich und darüber, dass er jetzt, wo er endlich seine Zweisamkeit hat, nur dastehen kann und schauen. David räuspert sich, stellt eine überflüssige Frage. »Wer bist du?«, fragt er ihn, und dann sagt er es selbst: »Milo, du bist Milo.«
    David schöpft zwei Liter Hoffnung aus dem Brunnen, dessen Schacht bis zum Erdmittelpunkt hinabreicht. Jemanden wie Milo hat er seit seiner Zeit bei den Wühlmäusen vermisst, schon immer also, und jetzt ist Milo plötzlich da, steht bei David am Brunnen am Hauptplatz, im Zentrum der Dinge, und endlich hat das Vermissen ein Ende. Er sieht auf Milos Hand,
die seine immer noch hält, wie das ankommt, das kann er sich denken. Milo folgt Davids Blick und lässt ihn dann los.
    »Egal«, sagt David und: »Gut, dass du da bist.«
    Der Wind weht Welten, es regnet ohne Unterlass, Milos Nase läuft, beide haben aufgesprungene Lippen. Milo setzt sich auf den Rand des Brunnens, er wirkt müde. David steht daneben und zum milliardensten Mal sieht er hinunter ins tiefe Schwarz, spricht plötzlich über Horrorfilme, Teil eins bis drei, irgendetwas Japanisches, die hat er noch aus der Videothek, bevor er sie zurückgeben konnte, war die verschwunden, von einem Tag auf den anderen; mittlerweile ist das fast drei Jahre her. Eigentlich sind ihm die Filme egal, aber für einen winzigen Moment kann David beim Erzählen Milos Jackenärmel berühren, ein Stück näher bei ihm sein, während er auf irgendetwas Unsichtbares da unten im Brunnen deutet, und ob sie reingehen sollen oder nicht, darüber sprechen sie auch, und sie entscheiden sich immer wieder für die Kälte.
    Die Wühlmäuse stürmen auf den Platz. Die Zwillinge beobachten, wie Mona mit der kreuz und quer laufenden regenbemantelten Kindergartengruppe kollidiert. Jules grinst, Mona erinnert an einen dieser Tumbleweeds aus
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