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Der Herr der Tränen

Der Herr der Tränen

Titel: Der Herr der Tränen
Autoren: Sam Bowring
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DAS DENKMAL UND DIE KLEINE DROSSEL
    Rostigan hatte es nicht kommen sehen. Natürlich hatte es im Laufe der Jahre Zeichen gegeben, die ihn beun-
ruhigten, doch niemand wäre auf die Idee gekommen, dass sie jemals zurückkommen würden. Sie waren Geschichten aus der Vergangenheit, Erinnerungen, die in alten Büchern verstaubten, und das war allen recht so. Warum sollten sie plötzlich wieder auftauchen – nicht einer oder zwei, sondern gleich alle auf einen Schlag?
    Es war ein sonniger Tag, das zeigte sich sogar in der Höhle. Vereinzelte goldene Strahlen fielen durch Löcher in der Decke. Die Huscher blieben in ihren Ecken und fragten sich, was aus ihrer sonst so feuchtkalten Zuflucht geworden war. Rostigan hatte sich unter einer der größeren Öffnungen, durch die das Licht hereinschien, auf einen Felssims hochgezogen und einen Schatz entdeckt. Zwischen Moos und tropfendem Wasser sprossen gesprenkelte Blätter, die an Klee erinnerten: ein Büschel Lockenzahn.
    Er atmete tief durch und mochte kaum glauben, was er sah. Aus den dunklen Tiefen seiner Seele stieg eine seltene Wärme auf. Sie verband ihn mit den vergessenen Dingen – so als würde er für einen Moment auf dem hohen Turm seines Lebens stehen und sich jedes Steins und jeder Stufe unter seinen Füßen bewusst werden, während er in den Sternenhimmel blickte.
    Er schüttelte den Kopf, um sich nicht in einen Tagtraum zu verlieren.
    Dann zog er eine kleine Schere aus der Tasche, mit der er sich an die schwierige Arbeit machte, die dünnen Stängel des Lockenzahns abzuschneiden. Er musste vorsichtig sein mit seinen großen, groben Händen; seine Finger konnten die Schere kaum richtig fassen. Leicht könnte er die winzigen Pflanzen zerdrücken. An jedem Stiel wuchs ein einziges Blatt, das mindestens einen Beutel Gold wert war.
    Ich muss mir diese Stelle merken, dachte er, obwohl er nicht wusste, wann es ihn je wieder in diese Gegend verschlagen würde.
    Die letzte Pflanze rührte er nicht an. Das wunderte ihn – sie zu verschonen würde die anderen keineswegs ermutigen, schneller nachzuwachsen, und doch erschien es ihm gierig, alle zu nehmen. Das Gold, das er für die abgeschnittenen Blätter erlösen konnte, würde schon mehr sein, als Tarzi und er tragen konnten. Wir müssen es gegen Edelsteine tauschen, dachte er. Warum soll ich nicht das letzte Blatt auch nehmen? Von ein paar Smaragden und Rubinen mehr werden wir keinen krummen Rücken bekommen.
    Trotzdem ließ er es stehen. Die anderen wickelte er vorsichtig in ein Tuch, das er zu den weniger wertvollen Bündeln mit schwarzer Kresse, Ascenia und Purpurmoos in seine Tasche legte.
    »Was machst du da oben?«
    Tarzi war am Höhleneingang erschienen. Sie hatte den starken Ast eines Baums gepackt und beugte sich in die Höhle hinein, blieb aber mit den Füßen draußen auf festem Boden.
    »Komm doch einfach und sieh nach«, rief er.
    Nervös ließ sie den Blick durch die Höhle schweifen. Sie ekelte sich vor den Huschern, vor dem Schaben, wenn sie mit ihren Panzern über den Stein flitzten, und vor den Myriaden winziger Knopfaugen.
    »Die tun dir nichts«, beruhigte er sie. »Sie haben Angst vor dem Licht.«
    Als er hochgestiegen war, hatte ihn jedoch ein Huscher beobachtet. Das behielt er lieber für sich. »Hallo«, hatte er ihn begrüßt, und der Huscher war herbeigeeilt, hatte die Fühler ausgestreckt und seine beweglichen Mundwerkzeuge vorgeführt. Vielleicht hatte sich das Tier bedrängt gefühlt. Rostigan glaubte nicht, dass die Huscher Tarzi gefährlich werden konnten, aber aller Wahrscheinlichkeit nach würde sie die Höhle sowieso nicht betreten.
    »Ich habe Hunger«, rief sie.
    »Musst du nicht noch Lieder üben?«
    »Hm«, antwortete sie. »Nenn mir einen Titel, und ich habe den gesamten Text vor Augen, als hätte ich eine Schriftrolle vor mir.«
    Rostigan seufzte. »Warum dichtest du nicht neue Lieder?«
    »Wenn du deine Zeit nicht in solchen Höhlen verschwenden würdest, würde ich möglicherweise etwas erleben, das ein Lied wert wäre!«
    »Vielleicht hast du Glück – die Huscher könnten ihr braunes kleines Herz entdecken und mich angreifen.«
    Er machte den Ranzen zu und sprang von dem Sims. Als er auf dem Höhlenboden landete, zerdrückte er mit dem Absatz einen kleinen Stein, und aus der Dunkelheit ertönte alarmiertes Klicken. Tarzi schrie auf und hätte vor Schreck beinahe den Ast losgelassen. Sie zog sich zurück, ließ den Ast los und verschwand.
    Rostigan lachte, ging zum Eingang und
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