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Bevor Alles Verschwindet

Bevor Alles Verschwindet

Titel: Bevor Alles Verschwindet
Autoren: Annika Scheffel
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vorgesehene Kerbe. Als je
mand an ihr vorbeigeht, zuckt sie zusammen, sie blickt sich um, aber da ist niemand, die Straße ist leer. Die Straße ist bedroht wie die Häuser und Monas immer noch kleines Leben, und Mona rennt los, das erste Mal rennt sie nach so langer Zeit, an sich ein gutes Gefühl, wenn nicht alles so furchtbar wäre, wenn sie doch nur scharf sehen könnte. Das letzte Mal gerannt ist Mona vor fast zehn Jahren. Sie wollte fliehen vor all den örtlichen Unmöglichkeiten, fliehen nach Sansibar, weil ihr der Name so gut gefiel und weil es nach sehr weit weg klang. Ihr hätte klar sein müssen, dass ihre Mutter sie nicht lassen würde. Kaum hatte Mona den Hauptplatz überquert, kam diese auch schon aus dem Haus gestürzt, sperrte den Mund auf, um Mona zurückzurufen, stolperte bei der Treppe, taumelte bis zur Linde, fiel um und war tot. Mona klagte sich insgeheim des Mordes an, und seit jenem Tag ist sie nicht mehr gerannt. Bis heute.
    Das Knallen ihrer klobigen Schuhe auf dem Pflaster, der Hall, der spitze Klang beim Aufprall von Monas Angst gegen die alten Wände der Häuser, eigentlich ist ihr das alles zu laut. Seit zehn Jahren bewegt sie sich wie in Zeitlupe durch die Welt, vorsichtig schleicht sie an den anderen vorbei, hört nur zu, redet nicht mit, macht sie sich so unsichtbar wie nur möglich.
    Beim Laufen überlegt Mona jetzt, ob sie sich vielleicht geirrt hat, was den Mann angeht und seine Augen. Ob sie sich alles nur eingebildet hat, aus einer alten Sehnsucht heraus. Ob das vielleicht doch nichts werden kann, mit den geheilten Fahrrädern im Hof und mit seinen schwitzigen manikürten Fingern in ihrer Armbeuge und anderswo. Sie braucht ihn nicht. Sie kann gut allein sein, das kann sie, das hat sie geübt und dafür muss sie nicht einmal etwas sehen. Mona weiß mehr über den Ort als über sich selbst. Sie kennt sich hier aus wie nirgends und nur hier, und auf Sansibar damals wäre sie wohl ein für alle Mal verloren gewesen. Ganz sicher wäre ihr die
Freiheit über den Kopf gewachsen, sie hätte Mona für immer verschluckt. Hier aber springt Mona gerade rechtzeitig über jeden Stolperstein, lässt sich nicht noch einmal zu Fall bringen, sie weiß, wann sie abbiegen muss und wo aufpassen, weil da eine Schwelle ist, die lange schon zu keiner Treppe mehr gehört, zu keinem Eingang, zu nichts.
    Mona erreicht den Hauptplatz, der ist kreisrund, kopfsteingepflastert und von Fachwerkhäusern gesäumt, links die Linde, rechts der Brunnen, daneben das Tore und schräg hinter dem Baum das Rathaus, der Löwe, die Treppe, die Tür. Da will sie hin. Sie muss verhindern, dass die Nachricht überbracht wird.
     
    Unter der winterlich kargen Linde am Hauptplatz stehen die Zwillinge Jules und Jula Salamander und versuchen vergeblich, nicht nass zu werden. Sie sind äußerst dekorativ dabei und das wissen sie. Sie sind schön, und erst hinter weit mehr als sieben Bergen könnte es jemanden geben, der es aufnimmt mit ihrer Ausstrahlungsoffensive. Aber was interessieren sie die Berge, die ohnehin eher Hügel sind, ferne Städte, schönere Menschen? Sie sind hier und also die Schönsten. Die Zwillinge sind offiziell erwachsen, gerade achtzehn, im Ort aber sind sie für alle immer noch: der Junge und das Mädchen.
    Man kann nicht alles auf seine Eltern schieben, den Namen schon, und in diesem Fall sind Eleni und Jeremias Salamander schuld. Jula und Jules fügen sich ihrem Schicksal, sie treten immer gemeinsam auf, niemals werden sie sich trennen, das steht fest, seit sie denken können und vielleicht sogar schon länger.
    »Was meinst du, was diese Typen da bei Wacho wollen?«, fragt Jules. »Die hab ich hier noch nie gesehen.«
    »Ihn zum richtigen Glauben bekehren oder so«, sagt Jula. Ihre Stimme klingt, als könne sie sehr gut singen. Aber Jula singt nie, Jules singt, wenn auch heimlich. Und er lacht, Jules
lacht immer, wenn Jula Witze macht. Er lacht am lautesten, wenn die Witze schlecht sind.
    »Und das große Ding, das sie da schleppen?«
    »Das ist ein Segel. Wacho wird David sagen, dass er es auf dem Dach befestigen soll, und dann fahren sie weg mit ihrem Haus. Du weißt schon, dann suchen sie nach Anna, auch auf dem Meer.« Jules mag die Idee von David und Wacho auf hoher See, er kann sich vorstellen, dass sie Anna dort finden werden.
    »Mona sieht seltsam aus, wenn sie läuft«, sagt Jula.
    »Stimmt«, sagt Jules.
    »Mona ist komisch«, sagt Jula, und Jules nickt.
    »Stimmt.« Immer stimmt alles zwischen
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