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Bevor Alles Verschwindet

Bevor Alles Verschwindet

Titel: Bevor Alles Verschwindet
Autoren: Annika Scheffel
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    Und da Jona anfing hineinzugehen eine Tagereise in die Stadt, predigte er und sprach: Es sind noch vierzig Tage, so wird Ninive untergehen.
    (Matthäus 12,41)
     
    . . . denn ein Traum ist alles Leben und der Träumer selbst ein Traum.
    (Pedro Calderón de la Barca)
     
     
    Der Ort, an den die Reise führt, und seine Bewohner sind frei erfunden, Ähnlichkeiten mit realen Personen, mit noch existierenden, abgebrochenen oder versunkenen Orten zufällig. Und: Wer oder was sich hier eingeschlichen hat, darf bleiben.
    Jula
Später
    Die Landstraße, querfeldein, Hügel hinauf und hinunter, und das bei schönstem Herbstsonnenschein, eigentlich eine Glücksgarantie, und vielleicht pfeift er deshalb vor sich hin, auf jeden Fall dreht sie ihm jetzt das Radio ab. Gleich wird sie es sehen, das Wasser, dann sind sie da, am See, und »Kein Mensch« sagt Anton und nimmt ihre linke Hand, die mit dem tiefen Schnitt, das darf er nicht und das weiß er eigentlich, deshalb sagt sie schnell »Da vorn« und zieht die Hand weg. Jula zeigt auf die Spitze des Turms, auf das goldene Kreuz.
    »Wahnsinn«, sagt Anton. »Echt, das ist der absolute Wahnsinn.«
    Sie macht sich nicht einmal die Mühe zu nicken, aber Anton stört das nicht, so ein kindisches, so ein merkwürdiges Verhalten, Anton ist heute nur hier, um für sie zu tun, was er tun kann. Dafür hat er sich freigenommen.
    »Damit endlich Schluss ist«, hat er gesagt. Um ihn wiederzusehen, denkt Jula.
    Nein, Anton soll nicht mitkommen, das letzte Stück. Da oben am neuen Ausflugsparkplatz soll er sich hinstellen, vielleicht eine rauchen, er kann ein paar Fotos machen mit seiner überdimensionalen Kamera, er kann die Aussicht genießen, auf das zu dieser Jahreszeit schon vollkommen ausgestorbene Freizeitparadies, sich in Sicherheit wiegen, aber auf keinen Fall kann er mitkommen und er darf ihr nicht nachgehen:
    »Und nicht gucken, bitte.« Anton will Jula einen Kuss ge
ben, aber die dreht sich weg und Anton küsst die Luft, wie so oft.
    »Nicht hier«, sagt Jula. Aber vielleicht hat er sich auch verhört, vom See her bläst der Wind viel stärker als dort, wo sie herkommen, als zu Hause in der Stadt,wo Jula sich besser auskennt mittlerweile, besser als hier.
    Jula steigt den schmalen Pfad die Böschung hinab, auf den See zu, wo das Kreuz leuchtet wie früher, wie blankpoliert, dabei kann Greta – wie hieß sie noch mal mit Nachnamen, Mallicht, Mawicht, Mallnicht – sich in diesem April nicht darum gekümmert haben. Vereinzelte junge Bäume stehen unten am Ufer, zu schmal, um weite Schatten zu werfen, aber das wird noch. Irgendwo da muss er sein, da muss sie hin, und jetzt rutscht sie aus, fängt sich im letzten Moment, landet mit der rechten Hand in etwas Stachligem und schlittert im feuchten Laub in Richtung Wasser. Der See will sie haben, auch sie, das hätte sie sich denken können. Der Pfad muss gesichert werden, da kann man sich sonst das Genick brechen. Kurz überdenkt Jula diese Option, dann konzentriert sie sich auf den Abstieg.
    Dicht am Ufer steht ein Stein, rundherum wurden Rosen gepflanzt, wahrscheinlich sind es die alten Stöcke vom Friedhof, die wollten sie damals mitnehmen, für eben das hier, für diese Gedenkstätte. Jula geht auf den Stein zu wie auf einen Altar, und das erste Mal seit langer Zeit hat sie keine Angst. Er wird kommen, er muss. Dort, weit hinten an der Mauer, am Rande des Sees leuchtet noch immer seine Botschaft, klitzeklein von hier aus, aber Jula weiß, was dort geschrieben steht.
    Sie wendet den Blick ab, sieht auf den Stein, auf die Jahreszahlen, und plötzlich spürt sie ihn, da ist er endlich.
    »Gegründet neunhundertdreiundzwanzig«, sagt Jules und: »Sieh mich nicht an.«
    Jula fährt mit dem Finger über den Bindestrich und über
die Zahl dahinter, das Ende des Ortes. »Untergegangen vor ein paar Jahren«, sagt sie, und Jules nickt, Jula hat ihn vor Augen, ohne ihn anzusehen, sie erinnert sich genau. In identischen olivgrünen Herbstanoraks stehen sie vor dem Stein, gleich groß sind sie, gleich dünn und gleich unbeholfen, von hinten unterscheiden sie sich nur durch die Haarlänge und dadurch, dass Jules' Haar nass glänzt. Mittlerweile ist er fast zehn Jahre jünger als sie.
    Jules beginnt die Inschrift zu lesen, die irgendein Hellseher oder Verrückter für den Stein ausgewählt haben muss, zweisprachig und holprig. »Von Calderón de la Barca«, sagt Jula. »Das klingt schön, wie du das sagst«, sagt Jules und: »Hast du
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