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Bevor Alles Verschwindet

Bevor Alles Verschwindet

Titel: Bevor Alles Verschwindet
Autoren: Annika Scheffel
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die Stille hinein spielt das Blasorchester einen Tusch, die Honorationen straffen ihre Schultern und Brustkörbe, als wären die mit Orden behängt, das Fernsehen ist da und die Leute von der Zeitung, es ist ein
großer Tag, für die Region, das Land, die Firma. Nummer 1 und Nummer 2 eilen den Staudamm entlang, sie tragen ihre dunkelblauen Uniformen, das goldene Emblem der rasenden Pferde, und Nummer 1, der voranläuft, fragt jeden, den er trifft, nach einer Frau mit einem Gemüsenetz, mit einem Lächeln, das ihm seit Monaten nicht mehr aus dem Kopf gehen will, und ein kleines Mädchen zieht ihn am Ärmel und sagt, dass die Frau, die er sucht, ganz sicher auf Sansibar ist, und Nummer 2 sagt zu Nummer 1, dass er dann wohl schleunigst zum Flughafen müsse, und Nummer 1 schwingt sich auf sein Rad, ein sehr altes Modell, das er vom Sperrmüll hat und selbst restauriert, und er macht sich unverzüglich auf den Weg.
    Aus den Lautsprechern dröhnen trotz neuster Technik blechern die Stimmen, die sich beim Zählen auf kein Tempo einigen können. Als die erste Stimme bei null ankommt, halten alle die Kameras drauf, flüstert der Regisseur seinem Team zu, dass das, jetzt und hier, entscheidend sei. Alle starren, nichts passiert, die Verantwortlichen halten die Luft an, und während die Presse längst den Skandal wittert, herrscht Stille, und Marie flüstert: »Danke, Schädel!«. Dann aber knirscht es weit unter ihnen, rauscht es und donnert, und Marie lässt den Kopf hängen, das Wasser kommt. Auf den trockenen Boden stürzt es hinab, frisst die Traufe, den steinernen Löwen, die winzige Menschheit im Modell, und die Menge applaudiert, eifrig und begeistert, und dieser Ort ist Erinnerung, das Leben geht weiter, als ob nichts gewesen wäre und niemand hier.
    Anton
Heimfahrt
    Es ist dunkel geworden. Jula sieht das Kreuz nicht mehr. Zwischen den fast kahlen Bäumen am Hang leuchten vereinzelte Lichter, auf Höhe der östlichen Seeseite fährt ein Auto, der Wind lässt das Wasser sacht an die Uferbefestigung schlagen, sonst ist es still. Es ist alles anders, als sie es sich bis heute vorgestellt hat. Wenn sie an den See gedacht hat, war da immer die bunte Welt im Modell, Sonnenschein und Menschenmengen. Hier ist nur sie, ist Anton, türmen sich vage Erinnerungen, die die Leere nicht bevölkern können.
    Wie konnte sie so viel vergessen, wo war all das hin, die ersten achtzehn Jahre ihres Lebens verschmelzen in diesem Moment zu einem einzigen wirren Aufwachen, übrig ist nur Anton, der einstige Gelbhelm, den die meisten Vogelmann nannten.
    Jula steht auf, sie klopft Blätter und Erde von ihrer Hose, mittlerweile zieht sich das Loch bis zum Oberschenkel hinauf, kalt weht der Wind an ihre Haut. Sie müssen zurück in die Stadt, arbeiten, leben, es geht weiter, auch wenn sie manchmal nicht will, auch wenn ihr dieses Leben ab und an vorkommt, als hätte sie es gestohlen und wie eine einzige maßlose Übertreibung.
    Sie klettert den Abhang hinauf, und dann ist sie wieder sichtbar an der Oberfläche. Zerzaust, aber ruhigen Schrittes geht Jula über den Parkplatz, und Anton macht ein Foto von ihr, das sie später löschen wird, mit wirrem Haar und abwesendem Blick, sie sieht einsam aus darauf und fremd.
Sie steigen ins Auto, gleichzeitig schlagen sie die Türen zu. 
    Dass Anton einer ist, der sich mit dem Tod nicht abfinden kann, der nie stehen bleibt, nicht zurücksieht, sondern zurückgeht, hinein in ein besseres Vergessen, das hat sie vorher nicht gewusst. Er sieht in ihr mehr als eine Randfigur dieser Geschichte, er traut Jula Erinnerungen zu, die sie nicht haben kann, stellt sich gemeinsam mit ihr eine tosende Flutung des Ortes vor, die es so nicht gegeben haben wird, weil der Wasserspiegel des Sees langsam gestiegen sein muss. Anton sieht mit ihr zusammen einen Kirchturm, der unsichtbar ist, weil er abgerissen wurde vor mittlerweile zehn Jahren und mitsamt dem polierten Kreuz, an dem Tag, an dem Jules fiel und an dem das eine nichts mit dem anderen zu tun hatte. Anton nimmt Geschichten, Wünsche, Ängste und Träume so ernst wie die Wirklichkeit. Jula versteht ihn erst jetzt.
    »Das musste sein«, sagt Anton. »Aber jetzt reicht es.«
    Er stellt das Radio ganz laut, und Jula summt mit. Im Rückspiegel bewegt sich etwas, da ist eine Frau im dicken Herbstmantel. Die geht über den Parkplatz in Richtung der Böschung, sie scheint jemanden zu suchen, Anton und Jula beachtet sie nicht. Jula muss an David denken, die Frau
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