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Bevor Alles Verschwindet

Bevor Alles Verschwindet

Titel: Bevor Alles Verschwindet
Autoren: Annika Scheffel
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fast die Luft wegbleibt und der Mann fahl und ängstlich wird und die Frau rot und wütend.
    Brüllend geht Wacho auf das Kind zu, und das Kind geht lachend auf Wacho zu, und Frau und Mann wollen es festhalten, aber das Kind ist sehr schnell und es zeigt mit dem Finger auf Wacho und zieht eine rosafarbene Plastikkamera aus der Tasche und macht ein Foto von ihm. Und jetzt versteht er endlich, wer da vor ihm steht, im Kostüm der eiskalten Königin.
    »Marie«, ruft Wacho. »Was machst du denn hier? Und wer sind diese Leute?« Wacho ist drauf und dran, sie aus der Gewalt dieser Fremden zu reißen, aber Marie zeigt auf den Mann und die Frau, zeigt auf die beiden wie auf Teile eines Gebrauchtwagens, die zwar noch vorhanden sind, aber nicht mehr so richtig in Schuss.
    »Das ist meine Tante und das ist mein Onkel«, sagt sie. »Sie wollten sich das angucken. Ich hab sie überredet, mich mitzunehmen.«
    »Wissen deine Eltern das?«, fragt Wacho, und Maries Tante baut sich vor ihm auf, stellt sich vor Marie, sie versucht Wacho mit ihren Worten zurückzuschieben:
    »Sie hat selbstverständlich Bescheid gesagt.«
    »Selbstverständlich«, sagt Marie grinsend, und über das Gesicht der Tante trampelt der Zweifel und hinterlässt grobe Spuren.
    »Na dann«, sagt Wacho.
    »Was machst du noch hier?«, fragt Marie, die jetzt aussieht wie eine Erziehungsberechtigte.
    »Ich weiß nicht«, sagt er wahrheitsgemäß, Marie nickt.
    »Die anderen sind zu Hause geblieben. Die wollten nicht zurückkommen«, sagt sie. »Dabei ist das doch das Wichtigste.«
    »Meinst du?«, fragt Wacho.
    »Ja«, sagt sie und zückt wieder die Kamera.
    »Macht die echte Fotos?« Marie sieht Wacho mitleidig an.
    »Sonst würde ich ja wohl kaum auf den Auslöser drücken.« Wacho nickt, eine dumme Frage, er stellt sich an wie ein Idiot, dabei ist er doch froh, Marie hier zu begegnen, die sich jetzt auf den Boden hockt und mit dem blauen Fuchs auf dem Arm wieder auftaucht. Wacho krault das Fell des Fuchses, es ist sehr weich.
    »Zum Glück habe ich ihn wiedergefunden. Jetzt nehme ich ihn mit«, sagt Marie.
    »Wen?«, fragt die Tante, aber Marie beachtet sie nicht.
    »Kommst du auch?«, fragt Marie. »Wir warten auf dich.«
    »Tatsächlich«, sagt Wacho.
    »Sozusagen«, sagt Marie, aber sie verrät ihm nicht, was das heißen soll, und Wacho fragt auch nicht nach.
    »Marie«, sagt die Tante und: »Komm her, gleich geht's los.« Marie setzt wieder ihr bedauerndes Gesicht auf, wie es sich gehört.
    »Tut mir leid, ich muss.«
    »Alles klar, Marie«, sagt Wacho, und Marie reicht ihm die Hand, und er schüttelt sie vorsichtig.
    »Da stehen Häuser, leere Häuser für Leute wie dich. Ich finde die leeren Häuser unheimlich, es wäre gut, wenn da jemand wohnt.« Wacho nickt.
    »Das wäre wahrscheinlich von Vorteil.«
    »Genau«, sagt Marie. »Und wenn du Lust hast, darfst du wieder Bürgermeister sein, ich regle das. Genau wie alles andere. Keine Angst, es ist heikel, aber ich habe dafür gesorgt, dass es gut ausgeht.«
    »Und wie hast du das gemacht?«, fragt Wacho. Marie öffnet den Mund, schließt ihn dann wieder und sieht Wacho entschuldigend an. Sie darf nichts verraten. »Na dann«, sagt Wacho und winkt Marie nach, die von ihrem Onkel zurück in die Reihe gezogen wird. Er hätte sie gern gefragt, wofür sie gesorgt hat, was gut ausgehen soll und wieso sie Worte wie heikel benutzt. Wacho will gehen, aber es ist zu spät, es geht los.
    Er steht still, schließt die Augen und seine Sorge um den Ort verschwindet, auf einmal, macht Platz für das, was er verloren hat in den letzten Monaten, verloren und ohne Unterlass gesucht. Sie steigen aus dem Auto, es ist Nacht und kalt, ein schöner Ausflug war das, auch wenn es die ganze Zeit nur geregnet hat. Vorsichtig nimmt er David aus dem Kindersitz, Anna wartet auf ihn neben der Autotür, sachte streicht sie über Davids Kopf, der schwer und warm auf seiner Schulter liegt, nebeneinander gehen sie den Weg hinauf. Er versucht, mit einer Hand die Tür aufzuschließen, sie nimmt ihm den Schlüssel ab, er lässt sie vor in die Diele, sie schaltet dort das Licht an. Mit David auf dem Arm folgt er Anna aus der Kälte hinaus, zieht hinter ihnen dreien sacht die Tür zu. Der sicherste Moment, da ist er wieder.
     
    »Eine Minute«, sagt der Oberverantwortliche, und jetzt kennt die Menge auf der Staumauer kaum noch ein Halten, dicht an dicht drängen die Menschen in Richtung des Gitters. Aber alles schweigt, wie gebannt warten sie. In
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