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Bevor Alles Verschwindet

Bevor Alles Verschwindet

Titel: Bevor Alles Verschwindet
Autoren: Annika Scheffel
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zeigt höchstens einen Balken und nichts ist trauriger, als wenn jemand, den man vermisst, mitten im Satz verschwindet. Wenn sie will, wird er ihr nachher alles erzäh
len oder er lässt sie über früher reden, wie eigentlich jeden Abend und immer wieder zwischendurch, wie sie das schon vor der Sache mit Jules getan hat, oft mit dem kleinen Stück Ebenholz in der Hand. »Einmal sind Jules und ich«, beginnt sie dann, »Wir haben mal« oder »Fast hätten wir«. Ab jetzt nur noch Konjunktiv und Vergangenheit, wenn es um Julas Bruder geht, der ein bisschen kleiner und eine Minute jünger war als sie und noch sehr viel mehr sicherlich, von dem Anton nichts weiß.
     
    Wacho sieht sich um, er mustert die Menschen, die sich zum Untergang auf der Mauer versammelt haben. Sie muss auch hier sein, Anna wird in der Zeitung von der Flutung gelesen und sich heute Morgen spontan entschieden haben herzukommen, weil das wichtig ist und um bei ihm zu sein. Gleich wird es geschehen, das, was er später in seine Das-Gute-an-der-Flutung-Sätze einbauen will. »Das Gute an der Flutung war, dass wir uns wiedergefunden haben.« Sie wird lächeln und ihm über den Kopf streicheln, sie werden zusammen sein, bis er keine Haare mehr hat und keinen einzigen Zahn, er wird ihr aus der Zeitung vorlesen, weil sie dann längst nichts mehr sieht, er aber immer schon und auf ewig gute Augen hat.
    Das Leben wird weitergehen, er wird den Tod bekämpfen für sie und am Ende werden sie gemeinsam gehen, im Schlaf. Bis dahin wird es jenes Leben sein, das es immer hatte sein sollen, ohne große Aufregung und viel Drumherum. Sie wird ihm erzählen, wo sie war all die Zeit, und er wird nicht wütend werden, er wird nicht brüllen, nicht um sich schlagen, er wird wieder Martin sein und Wacho ein für alle Mal und für immer vergessen.
    Ein paar Tage vor Weihnachten wird David kommen, er wird den LKW vor der Tür parken, sie werden ihn überreden, im Gästezimmer zu übernachten und nicht auf der Ladefläche in seinem gestohlenen Haus. Die Nachbarn werden sich wun
dernd im Schneegestöber stehen und durch die Fenster ins Haus starren, während die Wacholders drinnen im Wohnzimmer sitzen und einander Geschenke überreichen. Sie werden einen Baum haben und bunte Teller und einen Braten, den er für Stunden bei kleiner Hitze schmoren lässt. Sie werden David zuhören, wie er von der Welt erzählt, er hat Farbe bekommen, er benutzt beide Hände, um das Geschenk auszupacken. Was zwischen ihm und seinem Vater passiert ist, während sie weg war, erzählt er ihr nicht.
    David und er hüten ein Geheimnis, und irgendwann wird David ihm wieder in die Augen sehen können, ohne die Fäuste in den Taschen zu ballen und bei jeder seiner Bewegungen zusammenzuzucken. Vielleicht wird er ihm später in der Küche in den Magen schlagen oder ins Gesicht, sie wird es nicht mitbekommen, und danach wird alles wieder in Ordnung sein, und vielleicht wird Wacho, der dann nur noch Martin ist, sich entschuldigen, für die letzte Zeit, die er für David zum Alptraum gemacht hat, und für all die Jahre davor.
     
    Ein Paar in identischen Shorts mit je einem Stoffbeutel und drei Kindern, zwei Mädchen, ein Junge, geht an Wacho vorbei, eines der Kinder streift im Vorbeigehen seinen Arm, sie gehen auf das blutrote, brusthohe Geländer zu und stellen sich dort nebeneinander auf.
    »Ihr müsst jetzt leise sein«, sagt die Frau.
    »Warum?«, fragt eines der Mädchen.
    »Weil man zu solchen Anlässen leise ist«, sagt der Mann, und die Kinder nicken, als ergäbe das einen Sinn.
    »Der Löwe wird ertrinken«, sagt der Junge.
    »Pst«, macht die Frau, und die Kinder starren schweigend hinab. Wacho atmet tief ein, streckt sich und dann brüllt er. Er ist nicht wütend, nicht zornig, aber er will einfach nicht leise sein. Wacho brüllt nichts Bestimmtes, er stößt Geräusche hervor, die die Besucher zusammenfahren lassen. Da steht eine
Horde verängstigter Schaulustiger kurz vor der großen Sensation, nur noch wenige Augenblicke von der Flutung entfernt, und glotzt ihn an wie eine Herde Schafe. Wacho brüllt Unverständliches, brüllt Tiefempfundenes, und die Leute glotzen und glotzen, und der Mann nimmt die Hand seiner Frau, und der Junge und eines der Mädchen pressen sich ängstlich an ihre Eltern, ihre Münder stehen offen. Das andere Mädchen, trotz Hitze in einer prunkvollen Robe, verzieht das Gesicht, dann fängt es an zu lachen, und Wacho brüllt noch lauter, und das Kind lacht, so dass ihm
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