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Bevor Alles Verschwindet

Bevor Alles Verschwindet

Titel: Bevor Alles Verschwindet
Autoren: Annika Scheffel
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sagt Herr Mallnicht. »Das war ein wunderbarer Wutanfall, David.«
    »Was wollen Sie eigentlich«, brüllt David, er hat Tränen in den Augen. Herr Mallnicht steht auf, er will David die Hand auf die Schulter legen, aber sie rutscht durch Davids Körper hindurch. Mehr als je zuvor fürchtet David, sich in Luft aufzulösen, davor, Herr Mallnicht und er könnten die Plätze getauscht haben. David merkt, dass er nicht weg sein möchte. Auf gar keinen Fall will er verschwinden.
    »Du machst das schon«, sagt Herr Mallnicht. »Ich muss dann mal. Und falls du Greta zufällig begegnen solltest –.
Ach, ich fürchte, meine Liebe ist schon längst über alle Berge. An ihrer Stelle wäre ich nach Dakar gefahren, aber vielleicht hat sie mittlerweile andere Träume, es ist ja so viel Zeit vergangen.« David nickt, obwohl er nicht versteht, was Herr Mallnicht da redet. Der war schon immer ein bisschen seltsam, David kennt ihn nicht anders. Vielleicht bringt Herr Mallnicht Dinge durcheinander oder er hat, bei all den Zeitschichten, durch die er gewandert ist, ganz einfach den Überblick verloren.
    »Herr Mallnicht«, sagt David. »Es war sehr schön, Sie zu treffen.«
    »Das finde ich auch«, sagt Herr Mallnicht. »Wir gehen dann mal.«
    »Wer ist wir?«, fragt David, und Herr Mallnicht zeigt einmal im Kreis um sich herum. Er zeigt auf Menschen, an die nur der Ort sich erinnert.
    »Wo gehen Sie denn jetzt hin?«, fragt David.
    »Na, ins Wasser Junge.«
    Herr Mallnicht steckt seine Pfeife zurück in den Mund und ruft die Löwen zu sich, der ohne Kopf befreit sich aus seiner Plastikplane und folgt, der andere krallt sich weiterhin fest in den Boden. Herr Mallnicht schüttelt den Kopf und dann ist er verschwunden. Alle verschwinden, sie sind einfach weg, von einem Moment auf den anderen, alle bis auf den sturen Löwen, und David kann Wacho jetzt ganz deutlich rufen hören, er muss in der Nähe der Traufe sein, und er hört sich verzweifelt an. Wo eben noch der kopflose Löwe war, liegt nur noch die Plane, David hebt sie auf, er weiß nicht, wofür.
     
    »Beruhigen Sie sich doch«, fleht der Verantwortliche. »Bitte, beruhigen Sie sich.« Wacho steht, von Gelbhelmen umzingelt, schon bis zur Brust in der tobenden Traufe. Er zieht die Hände durch den Fluss, er sucht seinen Sohn.
    »Noch eine halbe Stunde«, sagt der Bauleiter, er hat sich an
der Uhr festgesehen, seit zehn Minuten verkündet er jede Minute die Zeit. Im Fluss stochern die Gelbhelme nach David und auch an der Uferböschung suchen sie ihn.
    »Er kann hier nicht sein«, flüstert der Verantwortliche heiser, er und Wacho rufen abwechselnd nach dem verlorenen Sohn, dem schon wieder verlorenen Sohn, denkt der Verantwortliche, er hat auch einen, der ist drei Jahre alt und heißt Jonas; er kann sich gut vorstellen, wie man sich da fühlt. Er bemerkt, wie Wachos Hände zittern, wie er immer wieder in seiner Tasche wühlt.
    »Flussaufwärts ahoi«, murmelt Wacho und findet in seinen Taschen nur schlammiges Wasser. »Mir ist egal, wo deine Mutter ist, David, hörst du?«, ruft Wacho, und der Verantwortliche schämt sich, das mitanhören zu müssen, und der Bauleiter tippt auf seine Uhr und sagt streng:
    »Nur noch neunundzwanzig Minuten.«
    »Wir wissen es«, sagt einer der Gelbhelme und verschwindet wieder im Wasser. Sie tauchen jetzt nach David, der sich im gefräßigen Flussbett der Traufe verfangen haben könnte.
    »Ein Fahrrad«, ruft ein tropfnasser Gelbhelm und zieht ein verrostetes Kinderrad aus dem Wasser.
    »Das gehört Jula oder Jules«, sagt Wacho abwesend. »Aber die fahren nicht mehr damit.« Der Gelbhelm lässt das Fahrrad los und taucht wieder ab.
    »Also, also«, sagt der Bauleiter und: »Wir sollten den Fluss sauber halten, nicht dass der Unrat den See verschmutzt, und an dem Rad kann man sich leicht verletzen. Nicht dass sich ein Gummiboot daran aufschlitzt, wir wollen keinen Ärger.«
    »Wie spät ist es eigentlich?«, fragt jemand, und der Bauleiter zückt seine Uhr, sagt:
    »Nur noch wenig mehr als achtundzwanzig Minuten«, und dann beruhigt er sich wieder. Die Gelbhelme sind längst keine Gelbhelme mehr, die Helme liegen aufgereiht am Ufer. Sie erinnern von hier aus an eine schlafende Schildkrötenkolo
nie. Die Gelbhelme sind damit entschärft, nur nasse, tropfende Gestalten, die jemanden suchen, den sie noch nie oder selten gesehen haben. Einer von ihnen packt den Bürgermeister am Hemdkragen, als der sich erschöpft ins Wasser fallen lässt.
    »Es
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