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14 - Roman

14 - Roman

Titel: 14 - Roman
Autoren: Carl Hanser Verlag
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    D a das Wetter sich ganz ausgezeichnet dafür eignete und es Samstag war, ein Tag, an dem seine Tätigkeit ihm erlaubte, nicht arbeiten zu müssen, war Anthime nach dem Mittagessen zu einer Radtour aufgebrochen. Seine Pläne: die pralle Augustsonne genießen, sich ein wenig ertüchtigen und die Landluft tief einatmen, wahrscheinlich auch, im Gras liegend, lesen, denn er hatte an seinem Fahrzeug mit einem Gummispanner ein Buch befestigt, das für den Drahtgepäckträger zu voluminös war. Nachdem er locker aus der Stadt hinausgerollt und mühelos rund zehn Kilometer durch eine Ebene geradelt war, musste er bei einem Hügel in den Wiegetritt gehen und geriet, sich auf seinem Rad von links nach rechts werfend, ins Schwitzen. Das war freilich kein allzu steiler Hügel, wie hoch die Anhöhen in der Vendée so sind, weiß man ja, nur eine kleinere Kuppe, wenn auch so hoch, dass sich von ihr eine gewisse Aussicht bot.
    Als Anthime auf dieser Erhebung angelangt war, kam jäh ein ruppiger Wind auf, der ihm erst beinahe die Mütze weggeweht und dann das Rad aus dem Gleichgewicht gebracht hätte – ein solides Gefährt der Marke Euntes, von Kirchenmännern für Kirchenmänner konstruiert, das er einem von der Gicht geplagten Vikar abgekauft hatte. Derart lebhafte, geräuschvolle und brüske Luftbewegungen sind in der Region im Sommer eher ungewöhnlich, schon gar bei solchem Sonnenschein, und Anthime musste einen Fuß auf den Boden setzen, der andere blieb auf dem Pedal, das Rad etwas schräg unter ihm, während er mit einer schraubenden Bewegung in dem ohrenbetäubenden Brausen die Mütze auf der Stirn festdrehte. Dann betrachtete er die Landschaft: ringsum verstreute Dörfer, Felder und Weiden, soviel das Herz begehrte. Unsichtbar, aber vorhanden, atmete zwanzig Kilometer weiter westlich auch der Atlantik, den er eher zufällig bereits vier, fünf Mal befahren hatte, obgleich Anthime, da er nichts vom Angeln versteht, seinen Freunden an diesen Tagen keine große Hilfe gewesen war – seine Tätigkeit hatte es ihm allerdings erlaubt, nach der Rückkehr am Kai die stets willkommene Rolle desjenigen zu übernehmen, der die Makrelen, Wittlinge, Schollen, Butte und andere Plattfische sortiert und zählt.
    Es war der erste Augusttag, und Anthimes Blick wanderte über das Panorama: Von diesem Hügel aus, auf dem er sich allein befand, sah er hintereinander aufgereiht fünf oder sechs Weiler, zusammengewürfelte, sich unter ihren Glockentürmen duckende Häuser, die durch ein Netz schmaler Straßen verbunden waren, auf denen weniger die sehr seltenen Automobile fuhren als vielmehr Ochsenkarren oder Pferdegespanne mit der Getreideernte. Es war jedenfalls eine angenehme Landschaft, wenngleich im Moment von diesem jähen, lärmigen, für die Jahreszeit wirklich ungewöhnlichen Wind gestört, der Anthime zwang, seine Mützenkrempe festzuhalten, und der den ganzen Luftraum füllte. Nichts anderes war zu hören als dieses Tosen, und es war vier Uhr nachmittags.
    Wie seine Augen so zerstreut von einem Weiler zum anderen schweiften, bot sich Anthime ein ihm bis dato unbekanntes Phänomen. An der Spitze eines jeden Glockenstuhls, im selben Moment auf allen zugleich, begann eine Bewegung, eine winzige, aber regelmäßige Bewegung: regelmäßig sich abwechselnde schwarze und weiße quadratische Vierecke, die alle zwei, drei Sekunden aufeinanderfolgten, waren aufgetaucht, wie ein Wechsellicht, ein zweiphasiges Blinken, das an die automatischen Klappen gewisser Maschinen in der Fabrik erinnerte: Ohne sie zu begreifen, betrachtete Anthime diese mechanischen Impulse, die daherkamen wie Auslöser oder wie Augenzwinkern, von ein paar Unbekannten aus der Ferne an ihn gerichtet.
    Dann brach das betäubende Grollen des Windes ebenso jäh ab, wie es aufgekommen war, und wich dem Geräusch, das es bislang übertönt hatte: nämlich den Glocken, die hoch auf den Türmen zu läuten begonnen hatten und unisono in einem ernsten, bedrohlichen, schweren Durcheinander erklangen, in dem Anthime, obgleich er über wenig Erfahrung damit verfügte, denn er war zu jung, um schon viele Beerdigungen erlebt zu haben, sogleich instinktiv die Sturmglocke erkannte – die man nur selten betätigt und deren Anblick ihn vor dem Ton erreicht hatte.
    Angesichts des gegenwärtigen Zustandes der Welt konnte das Sturmgeläute nur eines bedeuten: Mobilmachung. Wie alle anderen, obgleich ohne wirklich damit zu rechnen, war Anthime mehr oder weniger darauf gefasst, hätte aber
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