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Bevor Alles Verschwindet

Bevor Alles Verschwindet

Titel: Bevor Alles Verschwindet
Autoren: Annika Scheffel
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Bürgermeister ein Problem mit dem Optimismus, mit der anhaltenden Abwesenheit seiner verlorenen Frau, und dann trinkt er mutwillig mehr als genug Punsch und steigt in sein Auto und fährt wie wild um den Hauptplatz herum und die Kinder behält man an diesen Tagen besser im Haus. Trotz der Gefahr sind sie alle froh, dass Wacho diesen Ausgleich hat. Solange er nur fährt und säuft, bleibt alles im Rahmen. Mona will das natürlich nicht verraten, das ist intern. Wenn der Mann mit den spinatgrünen Augen bei ihr einzieht, im Mooswerkhaus mit Blick auf die Vergissmeinnichtfelder aus jedem der Hinterhoffenster, dann wird sie mit ihm darüber reden, wenn er dazugehört, wenn sie gemeinsam über den Hauptplatz schlendern, wenn sie sich zu den anderen ins Tore gesellen, wenn sie absagt, beim Maikranzbinden und
zwar mit folgenden Worten: »Da kann ich nicht, leider, da haben wir unseren Tag.« Wenn er sie mit seinen vom Fahrradöl gereinigten Händen an den richtigen Stellen anfasst, wenn sie alles von ihm weiß, sogar dass er Hagelzucker abscheulicher findet als alles andere auf der Welt, dann wird sie ihn einweihen. Aber vorher sicher nicht.
    Der Mann nimmt Monas Hände in die seinen, es stört sie nicht, dass seine Handflächen feucht sind. Mona drückt die fremden Hände zur Eingewöhnung. Sie geht davon aus, dass der Mann diesen Moment versteht, dass er weiß, dass hier ein Grundstein gelegt wird. Der Mann spricht:
    »Es geht um etwas Wichtiges. Es geht um alles, um Sie alle, aber im Grunde, verstehen Sie mich bitte nicht falsch, ist es so schlimm nun auch wieder nicht.«
    Jetzt holt er Luft, und Nummer 2 springt ein, seine Augen wirken auf Mona sehr gewöhnlich, er ist so ein Durchschnittsgraublauer, und seine Stimme ist zu klein für seinen Körper, der Mann kann ja nur flüstern:
    »Es geht um die Flutung, um das Energieprojekt, es geht um die Talsperrmaßnahme. Es geht um den Abbruch des Ortes.«
     
    »Wohin gehst du?«, fragt Wacho.
    »Raus halt.«
    »Dann geh mal. Wir sehen uns ja später im Tore. Aber schließ vorher die Kellertür ab.« David schiebt den Riegel vor, hakt die Kette ein, drückt mit dem Fuß den wurstigen Stoffhund vor den Spalt, gegen die kalte Luft, die selbst im Sommer aus dem Keller in die Küche strömt. Früher war der Keller für Wacho kein Problem, da hat er sein Zeug selbst nach oben geschleppt. Aber seit einiger Zeit traut er sich nicht mehr hinunter, nicht einmal in die Nähe der Tür.
    David verlässt das Rathaus, er rutscht das Geländer der weißen Treppe hinunter und ärgert sich nicht über den nassen
Hintern. Er landet neben dem Löwen, die Hand auf der Mähne, der Stein ist kalt wie das Öl, wie das Bild unten im Keller. Es ist ein lebloser Tag, und David gibt sich Mühe, dagegen anzustrahlen, er sagt sich: »Heute ist es so weit!« Er geht zum Brunnen hinüber, er spuckt hinab, er wirft eine Münze zusammen mit den Flusen eines mitgewaschenen Taschentuchs. Er denkt sich, dass es schön wäre, wenn es jemanden gäbe. Jemanden, den es hier noch nicht gibt. Diesen Gedanken hat David jeden Tag.
     
    Mona starrt und starrt und ihr fehlt plötzlich etwas und sie merkt erst, was es ist, dass es die Hände sind, als die Männer schon wieder im Auto sitzen, mit Tempo dreißig auf den Hauptplatz zusteuern und die Botschaft von ihr wegtragen, es ist die schwitzige Nähe zu dem fremden Mann, der die Vergrößerung ihres Lebens sein sollte. In Monas Bauch rumort die Mutter, stemmt sich gegen die Eingeweide und fordert einen mutigen Schritt: »Streng dich an, Mona, kämpf um dein Glück!«
    Aber Mona steht da mit hängenden Armen, mit kalten Fingern, ihr fehlt der Durchblick. Vielleicht bedeutet der Verlust der Brille, dass sie den Mann mit dem festen Griff nie wieder sehen wird, nie wieder so wie eben, und das heißt nie mehr richtig. Mona sinkt in die Knie und orientiert sich bei der Suche nach der Brille an den Kartoffeln, die sich auf dem feuchten Boden drehen, als läge ihr Fall erst Sekunden zurück. Sie findet sie schließlich zwischen den Zwiebeln im Netz und einer einsamen Möhre. Die Brillengläser sind zerbrochen, Risse querdurch, aber noch in der Fassung, nur ein winziger Splitter fehlt, das Glas ist sehr dick. Tröstend streichelt Mona mit der Fingerspitze über die Bruchstellen, sie hat sich unter Kontrolle.
    Vorsichtig steht sie auf, reibt sich die Knie, die Strumpfhose ist gerissen, ihre Kleidung klamm. Mona setzt die Brille auf ihr Nasenbein, direkt in die dafür
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