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Bevor Alles Verschwindet

Bevor Alles Verschwindet

Titel: Bevor Alles Verschwindet
Autoren: Annika Scheffel
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meisten haben sich laut Memo schon vor Jahren aus dem Staub gemacht.«
    »Hast du den gesehen, da eben neben dem Schild?«, fragt Nummer 2.
    »Wen?«, fragt Nummer 1, flüchtig schaut er in den Rückspiegel. »Wer soll da gewesen sein?«
    »Da war so ein Junge, ich weiß nicht. Irgendwie merkwürdig.« Nummer 1 zuckt die Schultern. »Ich könnte schwören, da war wer!« Nummer 2 studiert die Welt im Spiegel, wolkenverhangener Himmel, vereinzelte Gehöfte, eine verwaiste Bushaltestelle, kahle Bäume und eine fast vergessene Landstraße. Von dem durchscheinenden Kerl mit dem seltsamen Blick ist nichts mehr zu sehen.
     
    Bevor sie sich für das Bunte Huhn entschied, hatte Mona an diesem Morgen überlegt, ob sie sich schon an den Linseneintopf wagen soll, dann aber hatte sie den Kopf geschüttelt und zu sich selbst gesagt: »Nein, Mona, keine Linsen vor dem ersten Februar.« Das ist eine ihrer goldenen Regeln, das ist einer der Gründe, warum sie hier einige für verrückt halten. Mona macht sich nichts daraus. Solange sie im Laden an der Ecke einbezogen wird in die Plaudereien, man sie zuhören lässt beim Klatsch und Tratsch, bei der Planung des großen Jahrhundertfestes im Sommer und sie die Sorge teilen darf um alles, was jünger oder viel älter ist als man selbst, so lange ist es Mona egal, dass ab und an jemand den Kopf schüttelt über sie. Außerdem: Den Kopf schütteln sie ständig, über alles, über jeden, sogar über sich selbst, wenn kein anderer vorbeikommt; wenn man über nichts als sich selbst sich noch wundern kann. Mona hat keinen Fernseher, keinen schwarzen Kater, aber ein gemütliches Kissen und einen guten Blick auf den Hauptplatz. Niemand weiß davon, aber Mona ist mit Brille eine gute Beobachterin, und sie hört alles, sogar die Blumen hört sie wachsen im Garten, und zwar durch das geschlossene Schlafzimmerfenster.
    »Und das ist doch schon was«, sagt Mona gern, sagt sie jetzt, abwesend und wieder einmal zu sich selbst, bevor sie im nächsten Moment von dem schwarzen Wagen angefahren wird.
     
    Als er den Knall hört, geht Robert Schnee sofort in Deckung. Er hat heimlich am Fenster geraucht und fürchtet, er könne entdeckt werden. Robert ist passionierter Raucher, seine Frau Clara jedoch der Ansicht, dass so jemand wohl kaum ein gutes Vorbild für ein kleines Mädchen sein kann. Schon gar nicht für ein kleines Mädchen wie Marie, das auf die Frage, was es einmal werden wolle, wenn es groß sei, »Bin ich schon!« und »Blutabnehmerin« antwortet und damit Ärztin meint. Eine goldene Zukunft sieht Maries Mutter da am Horizont leuchten und jemanden, der die Familienpraxis hinter der Bäckerei übernimmt, und überschattet wird diese Vorstellung allein von Roberts Rauchschwaden, und daher muss er sie heimlich zum Fenster hinausblasen und bei diesem Knall schnell den Kopf einziehen und die Zigarette ausmachen, wegwerfen, aber nicht in den Müllsack. »Bloß nicht auch noch in den Müllsack«, sagt Clara immer, »das brennt doch.«
    Robert taucht erst wieder auf, als Mona längst auf den Beinen ist. »Mona, ist irgendwas?«, ruft er aus dem Fenster, an dem er sich wieder schwungvoll und ausdrücklich zufällig positioniert hat. Er runzelt die Stirn, tritt zurück und öffnet den Mund zu einem altmodischen »O weh!«. Und dann setzt er noch einen drauf, Robert ruft ein außerordentliches »Mooonaa!«. Die ganze Inszenierung ist seiner Schauspielausbildung zwar angemessen, jedoch genau wie diese allen vollkommen gleichgültig: Mona steht schon wieder. Natürlich hat sie Robert vor ihrem Zusammenstoß mit dem Auto am Fenster entdeckt, aber Mona ist zu höflich, um ihn zu kränken, und so blinzelt sie zu ihm hinauf und ruft:
    »Aber nein! Aber vielen Dank, Robert!«
    In seiner Zufriedenheit wundert Robert sich nur flüchtig über die beiden fahlen Herren in den dunkelblauen Uniformen, über das schwarz lackierte Auto mit dem fremden Kennzeichen. Er nickt zum Abschied, ein bescheidener Abgang nach einer mittelmäßigen Vorstellung. Robert schließt das Fenster,
seinen Vorhang und setzt sich auf das runde Bodenkissen. Zeit für die Stimmübungen. Tief aus dem Zwerchfell stößt er sinnfreie Laute ins Wohnzimmer. In zwei Tagen ist die Premiere des Königsdramas im Einmanntheater, da darf er nicht fehlen.
     
    Mona hat ihre Brille verloren, sie sieht verschwommen, aber es reicht. Auf dem Boden liegt das Gemüse, das Emblem auf dem schwarzen Wagen, kürbisgroß, kann sie gerade so erkennen: drei
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