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Bevor Alles Verschwindet

Bevor Alles Verschwindet

Titel: Bevor Alles Verschwindet
Autoren: Annika Scheffel
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erwarten. Die fünf Phasen der Trauer, die gelten nicht nur für Sterbende, die gelten für beinahe jeden, dem ein Verlust bevorsteht.
    »Setzen Sie sich doch«, sagt Nummer 2 und deutet zum Tisch, »wir zeigen Ihnen die Pläne.«
     
    Unten auf dem Platz steht, zwei Kinderschritte entfernt, ein Mädchen vor Mona und schaut sie mit großen Augen an, die macht Marie Schnee immer, wenn sie etwas interessant findet. Endlich kann sie die anderen Wühlmäuse hinter sich lassen, ihrer Berufung folgen, darf eine erste Diagnose stellen, und: Die Kleinen werden staunen. Mit denen kann man im Wald spielen und Matsch machen und Gold schürfen, und mit Paul kann man sogar Geheimnisse besprechen, aber verstehen, fürchtet Marie, können sie die anderen doch nicht so ganz. Sie reckt sich hoch zu Mona. Die steht da und staunt wie alle anderen, wie gekonnt Marie analysiert und diagnostiziert. Marie traut sich, ganz nah heranzutreten an Mona, die Leon und Paul für eine Hexe halten und von der Mia sagt, dass sie ganz sicher stinkt. Marie findet auch, dass Mona stinkt, aber Marie kann Berufung und Kindergarten trennen, sie weiß: Mona ist gelaufen, ganz schnell, weil irgendwas ist, und dann stinken Erwachsene, weil sie schwitzen, was soll's.
    Aus dem Augenwinkel sieht Marie, wie nun auch die Zwillinge dazukommen, und spätestens jetzt ist das wirklich Maries Tag, so viele Augen auf ihr, sie wird allen zeigen, was sie kann. Danach muss Jula ihr einfach beibringen, wie man die Haare so hinkriegt, so wunderschön unfrisiert und trotz
dem ganz toll, und Jules, der sie manchmal anschubst beim Schaukeln, so stark, dass sie sich fast überschlägt, wird sich sofort in sie verlieben, und wenn nicht jetzt, dann wird er sich in fünf Jahren oder so, wenn es endlich so weit ist, an diesen einen Moment erinnern. An den Moment, in dem Marie gezeigt hat, dass in ihr eine große Persönlichkeit steckt, dass sie mehr ist als ein Kannkind.
    Die Stille ist perfekt. Wie man einen Auftritt inszeniert, hat Marie gelernt, oft genug hat sie ihren Vater beobachtet, um festzustellen, was er falsch macht, und jetzt räuspert sie sich, deutet mit dem Finger auf Monas Stirn, berührt sie natürlich nicht, bloß kein Schmutz rein, und sagt: »Mona, du blutest«.
    »Sie, heißt das, und Frau Winz«, sagt die Kindergärtnerin und zieht Marie weg von Mona. »Kommt jetzt, Kinder, wir gehen zum Fluss, Steine sammeln.« Die anderen jubeln, Paul nimmt Maries Hand und zieht sie noch weiter weg von dem, was wirklich wichtig ist, und Marie merkt wieder einmal, dass sie nicht mehr dazugehört. Durch den Jubel der anderen und das Was-fällt-dir-eigentlich-ein der Kindergärtnerin hört Marie, wie Jules fragt:
    »Kann ich Ihnen helfen, Frau Winz?« Und wie Mona sagt:
    »Nein, mir ist nicht zu helfen. Es ist zu spät.«
    »Jedem ist zu helfen.« Und Marie stellt sich vor, wie Jula zustimmt, die wissen nämlich alles, die Zwillinge. Mona schaut erschöpft zum Rathaus hinüber, sie sagt schwach, »Die Flutung«, und Marie flüstert andächtig, »Die Blutung«, und die Kindergärtnerin beugt sich zu ihr herunter und zeigt, extra auf Kopfhöhe, dass sie entsetzt ist, und dann sagt sie zu Marie, »Du bist doch besessen, Kind«, und da hat sie wahrscheinlich recht. Marie will endlich in die Schule. Sie will anfangen, Ärztin zu werden, sie will weg, aber das kann sie niemandem verraten, alle anderen denken, dass das hier das Tollste ist.
    »Komm«, sagt die Kindergärtnerin, und dann tut Marie lieber so, als fände sie die Traufe und schmierige Steine super,
und die Zwillinge und die großartige Blutung verschwinden hinter dem Schleier aus ewigem Regen.
     
    Kiesel fliegen dem schwarzen Grund des Brunnens entgegen und David stößt Milo so stark an, dass der das Gleichgewicht verliert und in Richtung Brunnenschacht kippt.
    »Du –«, ruft David, und die Reflexe setzen ein, schnell greift er nach Milos Jacke. Er bekommt den Ärmel zu fassen und darin Milos Arm, und dann sitzt Milo wieder fest und sicher, er ist blasser als blass, beinahe unsichtbar, aber er lächelt, und David atmet erleichtert auf. Immer noch umklammert er Milos Jackenärmel, er kann nicht fassen, dass er ihn fast in den Brunnen gestoßen hätte, ihn und damit sich, in den schrecklichsten aller Horrorfilme hinein: Der Ort ohne Milo . Ab jetzt nie wieder vorstellbar, so schnell kann das gehen, wenn man lange gewartet hat.
    »Das wollte ich nicht«, sagt David. Milo nickt, und David fällt wieder ein, was er ihm
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