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Der dunkle Fluss

Der dunkle Fluss

Titel: Der dunkle Fluss
Autoren: John Hart
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EINS
    D er Fluss ist meine früheste Erinnerung. Von der Vorderveranda am Haus meines Vaters, das auf einer kleinen Anhöhe steht, schaut man auf ihn hinunter, und ich habe Bilder, gelblich verblasst, von meinen ersten Tagen auf dieser Veranda. Ich habe in den Armen meiner Mutter geschlafen, wenn sie dort im Schaukelstuhl saß, ich habe im Staub gespielt, wenn mein Vater angelte, und ich weiß noch jetzt, wie der Fluss aussah: das langsame Kreisen des lehmroten Wassers, die schwarzen Strudel unter abgebrochenen Böschungen, die Geheimnisse, die er dem harten, rosafarbenen Granit von Rowan County zuraunte. Alles, was mich geformt hat, geschah in der Nähe dieses Flusses. Als ich meine Mutter verlor, konnte ich ihn sehen, und als ich mich verliebte, geschah es an seinem Ufer. Ich konnte ihn riechen, als mein Vater mich aus dem Haus warf. Er war Teil meiner Seele, und ich dachte, ich hätte ihn verloren.
    Aber alles kann sich ändern, sagte ich mir. Fehler können ausgebügelt werden, Unrecht lässt sich in Ordnung bringen. Das hat mich nach Hause gebracht.
    Hoffnung.
    Und Zorn.
    Ich war sechsunddreißig Stunden wach gewesen und hatte zehn davon am Steuer gesessen. Rastlose Wochen, schlaflose Nächte, und der Entschluss schlich sich in meinen Kopf wie ein Dieb. Ich hatte nie vorgehabt, nach North Carolina zurückzukehren — ich hatte es begraben —, aber unversehens lagen meine Hände auf dem Lenkrad, und Manhattan versank wie eine Insel hinter mir im Norden. Ich trug einen sieben Tage alten Bart und seit drei Tagen dieselbe Jeans und war angespannt von einer Nervosität, die an Schmerz grenzte, aber jeder hier würde mich unfehlbar erkennen. Nur das bedeutete »zu Hause«, im Guten wie im Schlechten.
    Mein Fuß ging vom Gas, als ich an den Fluss kam. Die Sonne hing noch tief über den Bäumen, doch ich spürte, wie sie aufging, ihr hartes, heißes Drängen. Auf der anderen Seite der Brücke hielt ich an und stieg aus; ich stand auf dem zermahlenen Schotter und schaute hinunter auf den Yadkin River. Er kam aus den Bergen und floss durch beide Carolinas. Acht Meilen weit von hier berührte er den nördlichen Rand der Red Water Farm, deren Land seit 1789 meiner Familie gehörte. Noch eine Meile weiter, und er floss am Haus meines Vaters vorbei.
    Seit fünf Jahren hatten wir nicht miteinander gesprochen, mein Vater und ich.
    Aber das war nicht meine Schuld.
    Ich ging mit einem Bier hinunter an die Böschung und blieb am Ufer stehen. Müll lag auf dem glatten Schlamm, der sich unter der morschen Brücke erstreckte. Weiden beugten sich über das Wasser ,und ich sah, dass Milchflaschen an den tief hängenden Ästen festgebunden waren und in der Strömung schwammen. Angelhaken würden daran hängen, dicht über dem schlammigen Grund, und eine Flasche lag ziemlich tief im Wasser. Ich beobachtete ihre Bewegungen und riss die Bierdose auf. Die Flasche sank tiefer und drehte sich gegen die Strömung. Sie bewegte sich flussaufwärts und zog eine V-förmige Welle hinter sich her. Der Ast zuckte, und die Milchflasche blieb hängen, weißes Plastik, rotfleckig vom Wasser.
    Ich schloss die Augen und dachte an die Menschen, die ich hatte verlassen müssen. Nach so vielen Jahren sollte man erwarten, dass ihre Gesichter verblassen, ihre Stimmen verhallen würden, aber so war es nicht. Die Erinnerung stieg herauf, ungeschminkt und frisch, und ich konnte sie nicht verleugnen.
    Nicht mehr.
    Als ich vom Fuße der Brücke die Böschung hinaufstieg, sah ich oben einen Jungen mit einem staubigen Fahrrad. Er hatte einen Fuß auf den Boden gestellt und lächelte zaghaft. Er war vielleicht zehn Jahre alt und trug eine verwaschene Jeans und hohe Segeltuchturnschuhe. An einem verknoteten Strick an seiner Schulter hing ein Eimer. Neben ihm sah mein großes deutsches Auto aus wie ein Raumschiff aus einer anderen Welt.
    »Morgen«, sagte ich.
    »Ja, Sir.« Er nickte, ohne abzusteigen.
    »Flaschenfischen?« Ich deutet hinunter zu den Weiden.
    »Hab gestern zwei gefangen«, sagte er.
    »Da unten sind aber drei Flaschen.«
    Er schüttelte den Kopf. »Eine gehört meinem Daddy. Die zählt nicht.«
    »An der mittleren hängt was ziemlich Großes.« Er strahlte, und ich wusste, das war seine Flasche, nicht die seines alten Herrn. »Brauchst du Hilfe?«, fragte ich.
    »Nein, Sir.«
    Ich hatte als Junge selbst ein paar Welse aus dem Fluss gezogen, und nach dem unerbittlichen Zug an der mittleren Flasche zu urteilen, hatte er möglicherweise ein Monster
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