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Das kalte Schwert

Das kalte Schwert

Titel: Das kalte Schwert
Autoren: Richard Morgan
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1
    Als sie hinter Hinerion in die Ausläufer des Waldes hinabkamen, sah Gerin die Luft in der Hitze über dem Buschland flimmern und wusste, dass die Entscheidung unmittelbar bevorstand.
    Das war ihre letzte Chance; es ging um Leben oder Tod. »Da draußen werden wir gebraten« , sagte er an diesem Abend zu den anderen, während sie aneinandergekettet dasaßen und auf ihr Essen warteten. »Habt ihr mitgekriegt, was die Antreiber gesagt haben? Noch mindestens sechs Wochen bis Yhelteth, immer nach Süden und bei jedem Schritt heißer. Meint ihr etwa, diese Arschlöcher geben uns deswegen mehr zu trinken oder zu fressen?«
    »Natürlich, du Idiot.« Tigeth, ein Stadtmensch, bleich und schwerfällig und anscheinend zu träge, um sich seine Freiheit um jeden Preis zurückzuholen, schnaubte, schniefte und schnäuzte sich zwischen den Fingern. Wie die Hälfte der Männer des Sklaventrecks hatte auch ihn eine Erkältung erwischt. Er schmierte den Schnodder am Boden ab und funkelte Gerin an. »Kapierste nicht? Die müssen uns verkaufen, wenn wir nach Yhelteth kommen. Wie wollen sie das anstellen, wenn wir’s nicht bis dahin schaffen oder bei unserer Ankunft bloß noch Haut und Knochen sind? Vielleicht bist du zu jung oder
zu blöde, um das zu kapieren, Sumpffuß, aber es geht ums Geschäft. Tot sind wir nichts wert.«
    Sumpffuß.
    In einigen Vierteln Trelaynes war das eine Beleidigung, die sofort eine formelle Herausforderung und ein Duell auf den Brillinhügeln in der Morgendämmerung nach sich gezogen hätte. Anderswo wäre man einfach abgestochen worden und im Fluss gelandet. Wie bei allem anderen in der Stadt waren die Prämissen dieselben, aber Wohlstand und gesellschaftliche Stellung entschieden, welches dieser Schicksale einen ereilte. Und ob flussaufwärts oder flussabwärts, Niederungen oder Slums am Hafenende – überall galt eine allgemeine Wahrheit: Niemand in Trelayne würde die Bemerkung einfach so stehenlassen, er habe Blut der Sumpfbewohner in sich.
    Gerin war in den Sümpfen aufgewachsen und hätte um keinen Preis in der Stadt leben wollen. Er ließ das Schimpfwort daher durchgehen, wie es seine Sippe getan hatte, so lange er zurückdenken konnte.
    Im Augenblick steht zu viel anderes auf dem Spiel.
    »Hast du je die Fischerboote in den Hafen kommen sehen, Tigeth?«, fragte er gleichmütig. »Meinst du etwa, jeder Fisch im Netz schafft’s bis auf den Markt?«
    Kettenglieder rasselten ungeduldig neben Gerin. Eine angespannte, ärgerliche Stimme ertönte in der anbrechenden Dunkelheit.
    »Wovon redest du – Fisch?«
    Ein weiterer Stadtbewohner. Gerin fiel der Name nicht ein, aber dieser Mann war hagerer und von der Arbeit erschöpfter als Tigeth. In den Wochen ihres Marschs hatte er kaum ein Wort gesprochen; wenn sie zur Rast anhielten, starrte er die meiste Zeit ins Leere, wobei seine Kinnlade arbeitete, als zermalmte
er die letzten Reste eines Priems Kautabak zwischen den Zähnen.
    Wie die meisten seinesgleichen schien er nach wie vor außerstande, die Tragweite dessen, was ihm angetan worden war, zu erfassen.
    »Der redet nur Scheiße«, höhnte Tigeth. »Versteht es nicht besser. Ich meine, sieh ihn dir mal an! Er ist ein verkümmerter kleiner Sumpfbalg, genau wie alle anderen unten am Stovmarkt, die einem aus der Hand lesen oder für die Menge rumhampeln. Kann nicht lesen, kann nicht schreiben, und wahrscheinlich kann er nicht mal bis zehn zählen. Keine Ahnung vom Handel.«
    Gerin lächelte düster.
    »Na ja, du und alle anderen in diesem Treck, ihr seid wegen eurer Schulden verkauft worden, also macht uns das wohl alle gleich.«
    Mit einem Fluch stürzte sich Tigeth auf ihn. Ein kurzes, ohnmächtiges Rasseln von Ketten sowie ein allgemeines Protestgeschrei, als die Bewegung die anderen Männer mitzog. Der Hagere hielt ihn zurück, umklammerte die zuckenden Hände des fetten Mannes ein paar Zentimeter vor Gerins Gesicht, bis Tigeth aufgab und wieder in sich zusammensackte.
    »Bleib ruhig sitzen, du verdammter Saftarsch!«, zischte der Hagere. »Sollen die Antreiber über uns herfallen? Möchtest du wie Barat enden?«
    Gerins Blick zuckte unwillkürlich zu den verbogenen leeren Fesseln hinüber, die sie nach wie vor mit sich trugen. Der große, zähe Barat, ein Zuhälter vom Hafenende, war genauso auf den Auktionsblock geraten wie Gerin – durch ein Urteil des Strafgerichtshofs. Im Falle des Luden war es darum gegangen, dass sich ein Adliger unters gemeine Volk gemischt und der Lude ihm die Kehle
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