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Bei Einbruch der Nacht

Bei Einbruch der Nacht

Titel: Bei Einbruch der Nacht
Autoren: Fred Vargas
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gesagt. Es ist für das Gutachten.«
    Camille legte einen Finger an ihre Lippen und überlegte. Sie hatte noch nicht darüber nachgedacht, daß das Tier identifiziert werden könnte. Sie glaubte nicht an das Gerücht von einem Riesenungeheuer. Es waren Wölfe, und Schluß. Aber für Lawrence hatten die Angriffe möglicherweise ein Gesicht, eine Schnauze, einen Namen.
    »Wer von ihnen ist es? Weißt du es?«
    Lawrence hob seine schweren Schultern und breitete die Arme aus.
    »Die Wunden«, wiederholte er.
    »Was sagen die?«
    »Größe. Geschlecht. Mit ziemlich viel Glück.«
    »An welchen denkst du?«
    Lawrence rieb sich mit den Händen übers Gesicht.
    »An den großen Sibellius«, stieß er durch die zusammengebissenen Zähne hervor, als mache er sich einer Denunziation schuldig. »Hat sich sein Revier abspenstig machen lassen. Von Marcus, einem jungen Angeber. Muß übel sein. Hab den Typen seit Wochen nicht gesehen. Sibellius ist ein harter Knochen, ein wirklich harter. God. Tough guy. Hat sich womöglich ein neues Revier erobert.«
    Camille stand auf und legte ihre Arme um Lawrences Schultern.
    »Was kannst du tun, wenn er es ist?«
    »Eine Spritze, in den Laster schmeißen. In die Abruzzen bringen.«
    »Und die Italiener?«
    »Nicht zu vergleichen. Die sind stolz auf ihre Tiere.«
    Camille stellte sich auf die Zehenspitzen, um Lawrences Lippen zu berühren. Lawrence beugte die Knie, schlang seine Arme um ihre Taille. Warum sich mit diesem verdammten Wolf rumärgern, wenn er sein ganzes Leben mit Camille in diesem Raum verbringen konnte?
    »Ich geh runter«, sagte er.
    Im Café wurde zunächst ziemlich heftig gestritten, bevor man schließlich einwilligte, Lawrence in den Kühlraum zu führen. Der »Trapper«, wie man ihn hier nannte - denn wer in den kanadischen Wäldern herumläuft, ist zwangsläufig ein »Trapper« -, galt inzwischen auf unbestimmte Weise als Verräter. Sie sagten es nicht. Sie riskierten es nicht. Denn sie spürten, daß sie ihn brauchen würden, ihn, seine Kenntnisse und auch seine Stärke. Ein solches Kaliber war in einem so kleinen Dorf nicht zu unterschätzen. Vor allem ein Bursche, der mit Grizzlys von gleich zu gleich redete. Da sind Wölfe doch nur ein Witz. Sie wußten nicht mehr so recht, auf welcher Seite man den Trapper einordnen, ob man mit ihm reden oder nicht mit ihm reden sollte. Was in Wahrheit keinen großen Unterschied gemacht hätte, denn der Trapper selbst redete nicht.
    Mit ruhigen Gesten betastete Lawrence unter den Blicken von Sylvain, dem Fleischer, und Gerrot, dem Schreiner, die getöteten Tiere. Einem fehlte ein Huf, dem anderen der obere Teil der Schulter.
    »Nicht klar, die Abdrücke«, murmelte er. »Haben sich bewegt.«
    Mit einer Handbewegung bedeutete er dem Schreiner, daß er ein Metermaß brauche. Gerrot legte es ihm ebenso wortlos in die offene Hand. Lawrence maß, dachte nach, maß erneut. Dann richtete er sich auf und gab dem Fleischer ein Zeichen, der die Tiere in den Kühlraum zurückbrachte, die schwere weiße Türe zuschlug und den Hebel umlegte.
    »Ergebnis?« fragte er.
    »Derselbe Angreifer. Scheint so.«
    »Großes Tier?«
    »Schöner Rüde. Mindestens so groß.«
    Am Abend standen noch etwa fünfzehn Dorfbewohner in kleinen Gruppen auf dem Platz um den Brunnen. Man zögerte, schlafen zu gehen. In gewisser Weise, auch wenn keiner es aussprach, hielt man bereits Wache. Man hielt Waffenwache, die Männer mochten das. Lawrence ging zu Gerrot, dem Schreiner, der allein auf einer Steinbank saß und zu träumen schien, während er die Spitzen seiner groben Schuhe betrachtete. Vielleicht sah er auch nur auf die Spitzen seiner groben Schuhe, ohne zu träumen. Der Schreiner war ein vernünftiger Mann, nicht sehr kriegerisch und nicht sehr gesprächig, und Lawrence hatte Respekt vor ihm.
    »Gehst du morgen wieder in die Berge?« begann Gerrot.
    Lawrence nickte.
    »Suchst du nach den Tieren?«
    »Ja, mit den anderen. Die müssen schon angefangen haben.«
    »Kennst du das Tier? Hast du eine Vorstellung?«
    Lawrence verzog das Gesicht.
    »Vielleicht ein Neuer.«
    »Warum? Was stört dich?«
    »Die Größe.«
    »Groß?«
    »Viel zu groß. Der Kieferbogen ist sehr entwickelt.«
    Gerrot stützte die Ellbogen auf die Knie, kniff die Augen zusammen und musterte den Kanadier.
    »Verdammt, dann ist es wahr, was sie sagen?« murmelte er. »Daß das kein normales Tier ist?«
    »Außergewöhnlich«, antwortete Lawrence im selben Ton.
    »Vielleicht hast du schlecht
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