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Bei Einbruch der Nacht

Bei Einbruch der Nacht

Titel: Bei Einbruch der Nacht
Autoren: Fred Vargas
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Donald Johnstone stieg erst Freitag gegen elf Uhr abends wieder ins Dorf hinunter.
    Zwischen eins und vier machten die Männer des Mercantour-Nationalparks im Schatten von Baracken aus Trockenmauerwerk, die man hier und da an den Hängen fand, eine lange Pause, während der sie lasen oder dösten. Lawrence hatte sich unweit des neuen Reviers von Marcus einen leerstehenden Schafstall angeeignet, dessen Boden er von uraltem und eigentlich geruchlosem Mist befreit hatte. Es ging ums Prinzip. Der große Kanadier, der es eher gewohnt war, seinen nackten Oberkörper mit Schneeklumpen zu waschen als sich, klebrig von altem Schweiß, in Schafsscheiße zu wälzen, fand die Franzosen schmuddelig. Paris, das er rasch wieder verlassen hatte, hatte ihm schwere Schwaden von Pisse und Schweiß entgegengehaucht, üble Gerüche von Knoblauch und Wein. Aber in Paris war er Camille begegnet, und so war Paris entschuldigt. Auch dieser überhitzte Mercantour und das Dorf Saint-Victor-du-Mont waren entschuldigt, wo er sich vorläufig mit ihr niedergelassen hatte. Aber trotzdem waren sie schmuddelig, vor allem die Männer. Er konnte sich nicht an schwarze Fingernägel, klebriges Haar oder unförmige, vor Schmutz grau gewordene Unterhemden gewöhnen.
    In seinem gesäuberten alten Schafstall legte sich Lawrence jeden Nachmittag auf ein großes Leintuch, das er auf dem gestampften Boden ausbreitete. Er ordnete seine Notizen, sah die Aufnahmen vom Vormittag durch, bereitete die Beobachtungen des Abends vor. In den letzten Wochen jagte ein alter, völlig erschöpfter Wolf, ein etwa fünfzehn Jahre alter Einzelgänger, der ehrwürdige Augustus, am Mont Mounier. Er kam nur frühmorgens hervor, wenn es noch kühl war, und Lawrence wollte ihn nicht verpassen. Denn der greise Vater versuchte eher zu überleben, als zu jagen. Seine schwindenden Kräfte ließen ihn selbst die einfachste Beute verlieren. Lawrence fragte sich, wie lange der Alte wohl noch durchhielt und wie das enden würde. Und wie lange er, Lawrence, noch durchhielt, bis er für den alten Augustus etwas Fleisch wildern und damit die Gesetze des Naturparks brechen würde, die vorschrieben, daß die Tiere sich allein durchschlagen oder krepieren sollten wie zu Anbeginn der Welt. Wenn Lawrence dem Alten einen Hasen brächte, würde das den Planeten doch wohl nicht aus dem Gleichgewicht bringen, oder? Wie dem auch sei, wenn schon, dann müßte er es tun, ohne den französischen Kollegen auch nur ein Sterbenswörtchen zu sagen. Die Kollegen waren der festen Ansicht, daß Hilfe die Tiere verweichlichen und die Gesetze der Natur zerrütten würde. Sicher, aber Augustus war schon verweichlicht, und die Gesetze der Natur waren schon zerrüttet. Was würde das also ändern? Nachdem er Brot, Wasser und Wurst verschlungen hatte, streckte sich Lawrence auf dem Boden im Kühlen aus, die Hände im Nacken verschränkt, und dachte an Camille, dachte an ihren Körper und an ihr Lächeln. Camille war sauber, Camille duftete, und vor allem verfügte Camille über eine unbegreifliche Anmut, die einem Hände, Bauch und Lippen erzittern ließ. Niemals hätte Lawrence sich vorstellen können, für ein so braunes Mädchen mit glatten schwarzen Haaren, das Kleopatra ähnelte, erzittern zu können. Immerhin, dachte er, Kleopatra ist jetzt zweitausend Jahre tot, aber sie bleibt noch immer der Archetypus jener stolzen braunen Mädchen mit gerader Nase, zartem Hals, reinem Teint. Ja, ganz schön stark, diese alte Kleopatra. Im Grunde wußte er nichts über sie und nicht sehr viel über Camille, außer daß sie keine Königin war und ihr Leben mal mit Musik, mal mit Klempnerarbeiten bestritt.
    Dann mußte er sich von diesen Bildern lösen, die ihn daran hinderten, sich auszuruhen, und er konzentrierte sich auf den Lärm der Insekten. Diese Viecher schafften ganz schön was weg. Neulich hatte ihm Jean Mercier am Fuß der Berge seine erste Zikade gezeigt. Dick wie ein Fingernagel, viel Lärm um fast nichts. Lawrence mochte die Stille.
    Heute morgen hatte er Jean Mercier gekränkt. Aber im Ernst, es war wirklich Marcus.
    Marcus mit der gelben Strähne am Hals. Vielversprechend, dieser Wolf. Kräftig, guter Spürsinn, gefräßig. Lawrence hatte ihn im Verdacht, im vergangenen Herbst eine ordentliche Zahl Lämmer im Kanton von Trévaux gefressen zu haben. Die klare Arbeit eines Räubers, überall im Gras Blut um die zu Dutzenden zerrissenen Felle, eine Tat, die die Leute vom Nationalpark verzweifeln ließ. Die Verluste
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