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Bei Einbruch der Nacht

Bei Einbruch der Nacht

Titel: Bei Einbruch der Nacht
Autoren: Fred Vargas
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Sache ist, daß es ganz neue Welpen gibt.«
    »Gut.«
    »Sehr gut.«
    »Wie viele?«
    »Zu früh, um das zu sagen.«
    Jean Mercier kritzelte ein paar Notizen in sein am Gürtel befestigtes Notizbuch, trank aus seiner Feldflasche und nahm seine Position wieder ein, ohne auch nur den kleinsten Zweig knacken zu lassen. Lawrence legte das Fernglas hm und wischte sich über das Gesicht. Er griff nach der Kamera, richtete sie auf Marcus und begann lächelnd zu filmen. Er hatte fünfzehn Jahre seines Lebens unter Grizzlybären, Karibus und kanadischen Wölfen verbracht, hatte allein die riesigen Nationalparks durchzogen, während er beobachtete, Notizen machte, filmte und manchmal den Ältesten unter seinen wilden Begleitern half. Nicht gerade lustige Kerle. Ein altes Grizzlyweibchen, Joan, das mit gesenkter Stirn zu ihm gekommen war, um sich den Pelz kratzen zu lassen. Lawrence hatte nicht gedacht, daß das arme, beengte, verwüstete und domestizierte Europa ihm irgend etwas ansatzweise Lohnendes zu bieten hätte. Er hatte diesen Reportageauftrag im Mercantour-Massiv unter Vorbehalten und nur deshalb angenommen, weil es Sachen gibt, die man nicht ablehnen kann.
    Und so saß er nun schließlich schon ewig in diesem Winkel des Gebirges und schob seine Rückkehr vor sich her. Deutlich gesagt, er trödelte herum. Er trödelte wegen der europäischen Wölfe und ihres grauen, erbärmlichen Fells, dieser armen, keuchenden Verwandten der hellen Polarwölfe mit buschigem Fell, die seiner Vorstellung nach all seine Zärtlichkeit verdienten. Er trödelte wegen der dichten Wolken von Insekten, der Ströme von Schweiß, wegen des verkohlten Strauchwerks, der knisternden Hitze dieser mediterranen Welt. »Warte, du hast nicht alles gesehen«, sagte Jean Mercier in etwas belehrendem Ton, mit diesem stolzen Ausdruck des Kenners, des Hitzigen, des Überlebenden des Sonnenabenteuers. »Wir haben erst Juni.«
    Und schließlich trödelte er wegen Camille.
    Hier sagten sie, er »setze sich fest«.
    »Das ist kein Vorwurf«, hatte ihm Jean Mercier mit einer gewissen Würde gesagt, »aber besser, du weißt es: Du setzt dich fest.«
    »Nun, jetzt weiß ich es«, hatte Lawrence erwidert.
    Lawrence stoppte die Kamera, legte sie vorsichtig auf seinen Rucksack, deckte sie mit einem weißen Tuch zu. Der junge Marcus war gerade in Richtung Norden verschwunden.
    »Er ist los, um vor der großen Hitze zu jagen«, bemerkte Jean.
    Lawrence besprühte sich das Gesicht, befeuchtete seine Mütze, trank zehn Schlucke. Meine Güte, diese Sonne. Noch nie so eine Hölle erlebt.
    »Drei Welpen mindestens«, murmelte Jean.
    »Ich koche«, sagte Lawrence und verzog das Gesicht, während er sich mit der Hand über den Rücken fuhr.
    »Wart's ab. Du hast noch nicht alles gesehen.«

2
    Kommissar Jean-Baptiste Adamsberg schüttete die Nudeln ins Sieb, ließ sie zerstreut abtropfen und beförderte alles auf seinen Teller - mit Käse und Tomaten, das würde heute abend reichen müssen. Er war wegen der Vernehmung eines jungen Idioten, die sich bis elf Uhr hingezogen hatte, spät nach Hause gekommen. Denn Adamsberg war langsam, er mochte es nicht, die Dinge und die Menschen anzutreiben, so blöd sie auch sein mochten. Vor allem aber haßte er es, sich selbst anzutreiben. Der Fernseher lief auf Zimmerlautstärke, Kriege, Kriege und wieder Kriege. Er kramte geräuschvoll im Durcheinander der Besteckschublade, fand eine Gabel und stellte sich vor den Apparat.
    »... kam es in einem bislang verschont gebliebenen Kanton des Departements Alpes-Maritimes erneut zu Angriffen durch Wölfe des Mercantour. Es ist die Rede von einem Tier von außergewöhnlicher Größe. Legende oder Wirklichkeit? Vor Ort...«
    Ganz langsam näherte sich Adamsberg mit dem Teller in der Hand auf Zehenspitzen dem Fernseher, wie um den Moderator nicht zu erschrecken. Eine unbedachte Bewegung, und der Typ würde aus dem Fernseher fliehen, ohne die fabelhafte Geschichte von den Wölfen zu Ende zu erzählen, die er gerade begonnen hatte. Adamsberg stellte den Apparat lauter und ging wieder ein Stück zurück. Er mochte Wölfe, so wie man Alpträume mag. Seine ganze Kindheit in den Pyrenäen war eingehüllt in die Stimmen der Alten, die das Epos von den letzten Wölfen Frankreichs erzählten. Und als er mit neun Jahren nachts durch das Gebirge gezogen war, als sein Vater ihn auf die Bergpfade geschickt hatte, um Anmachholz zu holen, ohne Widerrede, da hatte er zu sehen geglaubt, wie ihre gelben Augen ihn den
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