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Bei Einbruch der Nacht

Bei Einbruch der Nacht

Titel: Bei Einbruch der Nacht
Autoren: Fred Vargas
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gemessen, Trapper. Es gibt nichts, was sich so verändert wie Maße.«
    »Ja. Die Zähne sind gerutscht. Abgerutscht. Haben den Abdruck womöglich länger gemacht.«
    »Siehst du.«
    Die Männer schwiegen eine ganze Weile lang.
    »Aber trotzdem groß«, begann Lawrence schließlich wieder.
    »Bald wird's was geben«, sagte der Schreiner und ließ den Blick über den Platz und die Männer mit den Fäusten in der Tasche gleiten.
    »Sag's ihnen nicht.«
    »Sie sagen's sich selbst schon genug. Was wäre dir am liebsten?«
    »Ihn vor ihnen zu fassen zu kriegen.«
    »Verstehe.«
    Am Montag schnürte Lawrence im Morgengrauen seinen Rucksack zu und brach wieder in den Mercantour auf. Marcus und Proserpina bei ihrer jungen Liebe überwachen, Sibellius ausfindig machen, die Bewegungen des Rudels überprüfen, kontrollieren, wer da war und wer fehlte, den Alten ernähren und dann Elektra suchen, ein kleines Weibchen, das seit acht Tagen nicht mehr gesehen worden war. Er würde Sibellius' Fährte in Richtung Südosten verfolgen, bis in die Nähe des Dorfes Pierrefort, wo der letzte Angriff stattgefunden hatte.

5
    Lawrence folgte Sibellius' Fährte zwei Tage lang, ohne das Tier zu finden. Er rastete nur dann im Schatten eines Schafstalls, wenn diese Dreckssonne allzusehr brannte. Gleichzeitig suchte er zwanzig Quadratkilometer Gelände nach Resten gerissener Schafe ab. Nie wäre Lawrence seiner Leidenschaft für die großen kanadischen Bären untreu geworden, aber er mußte einräumen, daß sich dieser Haufen magerer europäischer Wölfe in sechs Monaten ziemlich tief in ihn eingegraben hatte.
    Als er gerade vorsichtig einen schmalen Pfad an einem Steilhang entlang ging, entdeckte er Elektra, die verletzt tief unten in der Schlucht lag. Lawrence wog seine Chancen ab, den Teil des mit dichtem Gestrüpp bedeckten Abhangs zu erreichen, wo die Wölfin lag, und kam zu dem Ergebnis, daß er es allein schaffen könnte. Alle Aufseher des Nationalparks durchstreiften das Gelände, und er hätte zu lange auf die Hilfe eines Kollegen warten müssen. Er brauchte über eine Stunde, um das Tier zu erreichen, Griff für Griff sicherte er sich unter der höllisch brennenden Sonne ab. Die Wölfin war derart geschwächt, daß er ihr nicht einmal das Maul zubinden mußte, um sie abzutasten. Eine gebrochene Pfote, zwei Tage nichts gefressen. Er legte sie auf ein Tuch, das er um seine Schulter knotete. Selbst in abgemagertem Zustand wog das Tier seine dreißig Kilo, ein Federgewicht für einen Wolf, eine Last für einen Menschen, der einen Steilhang hinaufklettert. Als er den Pfad erreicht hatte, erlaubte sich Lawrence eine halbe Stunde Rast, er legte sich im Schatten auf den Rücken, eine Hand auf dem Fell der Wölfin, um ihr klarzumachen, daß sie hier nicht allein einfach so krepieren würde wie zu Anbeginn der Welt.
    Um acht Uhr abends brachte er die Wölfin in die Pflegestation.
    »Gibt's unten Ärger?« fragte der Tierarzt, als er Elektra auf einen Tisch legte.
    »Zusammenhang?«
    »In Zusammenhang mit den gerissenen Schafen.«
    Lawrence schüttelte mißbilligend den Kopf.
    »Müssen ihn kriegen, bevor sie hier raufkommen. Sie würden alles verwüsten.«
    »Gehst du wieder los?« fragte der Tierarzt, als er sah, wie Lawrence Brot, eine Wurst und eine Flasche einpackte.
    »Hab zu tun.«
    Ja, für den Alten auf die Jagd gehen. Das konnte ein Weilchen dauern. Manchmal klappte es nicht, genau wie bei dem Veteranen.
    Er ließ eine Nachricht für Jean Mercier da. Sie würden sich heute abend nicht begegnen, er würde in seinem Schafstall schlafen.
    Camille rief ihn am nächsten Tag an, kurz vor zehn Uhr, als er seinen Kontrollgang in Richtung Norden fortsetzte. An ihrer gehetzten Stimme merkte Lawrence, daß sich etwas zusammenbraute.
    »Es ist schon wieder passiert«, sagte Camille. »Ein Gemetzel in Les Écarts, bei Suzanne Rosselin.«
    »In Saint-Victor?« fragte Lawrence und schrie fast dabei.
    »Bei Suzanne Rosselin«, wiederholte Camille, »im Dorf. Der Wolf hat fünf getötet und drei verletzt.«
    »An Ort und Stelle gefressen?«
    »Nein, er hat Stücke herausgerissen, wie bei den anderen. Er scheint nicht aus Hunger anzugreifen. Hast du Sibellius gesehen?«
    »Keine Fährte.«
    »Du solltest herunterkommen. Hier sind zwei Gendarmen aufgekreuzt, aber Gerrot sagt, sie sind nicht in der Lage, die Tiere korrekt zu untersuchen. Und der Tierarzt ist kilometerweit entfernt, zum Fohlen. Alle brüllen, alle schreien rum. Verdammt, komm runter,
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