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Bei Einbruch der Nacht

Bei Einbruch der Nacht

Titel: Bei Einbruch der Nacht
Autoren: Fred Vargas
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Lawrence.«
    »In zwei Stunden in Les Écarts.«
    Suzanne Rosselin leitete die Schäferei Les Écarts, im Westen des Dorfes, allein, und zwar mit eiserner Hand, hieß es. Die derbe, ja männliche Art der großen, kräftigen Frau hatte dazu geführt, daß sie im ganzen Kanton respektiert und gefürchtet wurde, aber außerhalb ihres Guts suchten die Leute wenig Kontakt zu ihr. Man fand sie zu brutal, zu grobschlächtig. Und häßlich. Man erzählte, ein durchreisender Italiener habe sie vor dreißig Jahren verführt und sie habe ihm ohne Zustimmung ihres Vaters folgen wollen. Verführt mit Haut und Haaren, so sagte man im Dorf. Aber das Leben hatte ihr nicht die Zeit gelassen, gegen ihren Vater aufzubegehren, weil der Italiener schon wieder in seinem heimatlichen Stiefel verschwunden und ihre Eltern im selben Jahr gestorben waren. Manche sagten, daß der Verrat, die Schande und das Fehlen eines Mannes Suzanne hart gemacht hätten. Und daß das Schicksal sie aus Rache zu einem Mannweib gemacht habe. Andere versicherten, das sei nicht wahr, sie sei schon immer maskulin gewesen. Es lag wohl mit an all diesen Gründen, daß Camille sie mochte. Suzannes bis ins Extreme getriebene Fuhrknechtsprache hatte etwas Bewundernswertes. Dank ihrer Mutter hielt Camille Grobheit für eine Lebenskunst, und die Professionalität von Suzanne beeindruckte sie.
    Etwa einmal pro Woche stieg sie zur Schäferei hinauf, um die Kiste mit Lebensmitteln zu bezahlen, die Suzanne ihr packte. Sobald man das Gelände von Les Écarts betrat, war Schluß mit giftigen Kommentaren und Spott: Die fünf Männer und Frauen, die dort arbeiteten, hätten sich für Suzanne Rosselin in Stücke reißen lassen.
    Camille folgte dem steinigen Weg, der zwischen den Terrassen steil bis zum Haus hinaufführte, einem schmalen, hohen Steingebäude mit einer niedrigen Tür und winzigen asymmetrischen Fensteröffnungen. Sie dachte sich, daß das vergammelte Dach nur noch dank der stillen Solidarität der Ziegel hielt, die sich aus reinem Korpsgeist aneinanderklammerten. Das Haus war verlassen, und sie ging zu dem langen Schafstall, der sich fünfhundert Meter weiter oben quer zum Hang erstreckte. Man hörte Suzanne Rosselin schon von weitem herumschreien. Camille blinzelte in der Sonne und erkannte die blauen Hemden zweier Gendarmen sowie den Fleischer Sylvain, der hin und her rannte. Sobald es um Fleisch ging, mußte er dabei sein.
    Und dann stand da, priesterlich, gerade, aufrecht an die Mauer des Schafstalls gelehnt, der »Wacher«. Sie hatte noch keine Gelegenheit gehabt, den alten Schäfer von Suzanne, der immer inmitten seiner Schafe zu finden war, von nahem zu sehen. Es hieß, er schlafe in dem alten Gebäude, umgeben von seinen Tieren, aber das schockierte niemanden. Man nannte ihn den »Wacher«, das heißt den »Wächter«, den »Hüter«, wie Camille schließlich verstanden hatte, seinen richtigen Namen kannte sie nicht. Da stand er, mager und starr, mit stolzem Blick, etwas langen weißen Haaren, die Fäuste um einen in den Boden gerammten Stock geballt, und war im wirklichen Wortsinne ein würdevoller Greis, so daß Camille nicht wußte, ob sie ihn wohl ansprechen durfte.
    Neben Suzanne stand genauso aufrecht, so als wolle er dem Wacher in nichts nachstehen, der junge Soliman. Wenn man die beiden so sah, wie zwei unbewegliche Leibwächter rechts und links neben Suzanne, hätte man glauben können, daß sie nur auf ein Zeichen von ihr warteten, um mit einem Stockschlag eine imaginäre Horde heranstürmender Angreifer zu vertreiben. Aber das schien nur so. Der Wacher stand in seiner normalen Haltung, und Soliman richtete sich angesichts der etwas dramatischen Umstände ganz einfach nach ihm aus. Suzanne verhandelte mit den Gendarmen, es wurden Protokolle aufgenommen. Die toten Schafe waren an einen kühleren Ort geschafft worden, in die Dunkelheit des Schafstalls.
    Als Camille vor ihr stand, legte Suzanne ihr eine kräftige Pranke auf die Schulter und schüttelte sie.
    »Jetzt wär der Moment, wo dein Trapper hier sein sollte«, sagte sie. »Damit er uns was sagt. Er ist bestimmt schlauer als diese beiden Arschlöcher, die kriegen's einfach nicht auf die Reihe.«
    Der Fleischer Sylvain schien etwas sagen zu wollen.
    »Halt's Maul, Sylvain«, unterbrach ihn Suzanne. »Du bist genauso bescheuert wie die anderen. Ich nehm's dir nicht krumm, bist entschuldigt, ist ja nicht dein Job.«
    Niemand fühlte sich beleidigt, und die beiden Gendarmen füllten weiter
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